Ungeklärte Tötungsdelikte in München: Interview mit Mordermittler

Seit 1960 blieben in München und Umland 254 Tötungsdelikte ungeklärt. Anderswo gibt es Spezialeinheiten, die sich um Cold Cases kümmern. So arbeiten die Münchner Ermittler.
Nina Job |
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Mordermittler Helmut Eigner in seinem Büro. Die Fotos an der Pinnwand erinnern ihn täglich an die Opfer, deren Mörder nicht gefasst wurden.
Sigi Müller Mordermittler Helmut Eigner in seinem Büro. Die Fotos an der Pinnwand erinnern ihn täglich an die Opfer, deren Mörder nicht gefasst wurden.

Im Keller der Münchner Mordkommission lagern in einem Raum voller Stahlschränke viele tausend Seiten Akten. Die meisten sind vergilbt und noch auf Schreibmaschine getippt. Hinter jedem Fall verbirgt sich ein gewaltsamer Tod.

Es handelt sich um sogenannte Altfälle oder Cold Cases – Fälle, die die Polizei nicht klären konnte. Seit 2000 nehmen sich die Ermittler der Mordkommission diese Fälle neben ihrer alltäglichen Arbeit wieder vor. In anderen Städten wie Hamburg, Stuttgart oder Köln gibt es dafür mittlerweile Spezialeinheiten. Dies forderte die SPD nun auch für Bayern.

AZ besuchte Mordermittler Helmut Eigner (55)

Eigner kümmert sich seit 18 Jahren federführend um Altfälle. Der Erste Kriminalhauptkommissar und seine Kollegen waren in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich: 25 Fälle, die sich zwischen 1960 und 1990 ereignet haben, konnten sie nachträglich klären. "19 Beschuldigte wurden angeklagt und verurteilt. Drei sind gestorben, bevor sie vor Gericht gestellt werden konnten", sagt Eigner.

An der Pinnwand hinter seinem Schreibtisch hängen etwa ein Dutzend Schwarzweiß-Fotos. Auf den meisten sind Frauen zu sehen. Eine junge, blonde sitzt auf einer Wiese und schaut verträumt in die Kamera. Auf einem anderen ist ein Mädchen zu sehen, das sich an diesem Tag extra feingemacht hat. Es trägt einen Rock und Schuhe mit niedrigen Absätzen.

Mörder der kleinen Michaela wurde nie gefasst

Das Kind ist Michaela Eisch. Das Foto entstand kurz vor ihrem Tod vor 33 Jahren. Die Achtjährige wurde an der Braunauer Eisenbahnbrücke vergewaltigt und ermordet. Wer ihr das angetan hat, ist bis heute ungeklärt. Auch der Mörder der blonden Frau auf der Wiese konnte nie gefasst werden.

Wenn Helmut Eigner in sein Büro in der Hansastraße kommt, schaut er auf Michaela und die anderen. Für den Ermittler sind die Gesichter tägliche Mahnung: "Wir dürfen sie nicht vergessen!" Auch seine Kollegen in der Mordkommission bearbeiten neben ihrer alltäglichen Arbeit mindestens einen alten Fall. "Jeder Tote hat einen Paten", erklärt Eigner.

Die Aufklärungsquote der Münchner ist sehr hoch, weit über 90 Prozent, auch dank DNA, perfektionierter Spurensicherung und Kriminaltechnik. "Ungeklärte Morde sind mittlerweile nachweisbar sehr selten geworden", sagt Eigner.

Das war früher anders. Seit den 1960er Jahren haben sich 254 Tötungsdelikte in München und im Landkreis ereignet, bei denen die Täter davonkamen. "Die Zahl umfasst auch Versuche, Vermissungen und Unfälle, bei denen vieles für ein Verbrechen spricht."

Um in den Akten, die im Keller lagern, neue Ermittlungsansätze zu finden, braucht es viel Geduld, Akribie und Ausdauer. "Manchmal kommen auch Anfragen oder Hinweise von anderen Dienststellen oder konkrete Hinweise von einem Zeugen", sagt Eigner. Dann werden die Ermittlungen sofort wieder aufgenommen.

Handflächenabdruck brachte Klarheit

Im Fall Kornelia S., die am 6. Juli 1985 in der Studentenstadt mit einer Wasserflasche erschlagen worden war, führte ein Handflächenabdruck zum Durchbruch. Er war auf einer Folie abgeheftet in einem Ordner. Der Mörder hatte sich über die 26-jährige, schlafende Frau gebeugt und sich dabei an einer Wand abgestützt. Doch damals konnte der Abdruck niemandem zugeordnet werden. "Es gab nur den direkten Vergleich", erklärt Eigner.

Als der Ermittler den Abdruck Jahrzehnte später wiederfand, ließ er ihn digitalisieren und in die polizeiliche Fingerabdruck-Datei AFIS einstellen. Heute wird das bei jedem Verbrechen gemacht.

Der Computer meldete einen Treffer. Die Spur führte zu Norbert C. Er hatte zur Tatzeit als Spüler im Aumeister gearbeitet. Auf seinem Heimweg war er mehrmals in Erdgeschoss-Wohnungen eingebrochen. Mittlerweile lebte er in NRW und fuhr Lkw.

"Wenn der Spurenverursacher feststeht, dann beginnt die eigentliche Arbeit", sagt Helmut Eigner. "Dann muss man nachweisen, dass er was mit der Tat zu tun hat. Das sind sehr aufwendige kriminalpolizeiliche Ermittlungen." Eines Tages nahmen Eigner und ein Kollege den Verdächtigen in NRW fest. Auf der Fahrt nach München gestand er ihnen den Mord. 2011 wurde C. zu lebenslanger Haft verurteilt.

Manchmal reichen Mischspuren nicht aus: Freispruch!

Doch nicht immer landet der ermittelte Täter auch im Gefängnis. "Wenn die Tat lange zurückliegt, gibt es das Problem der Verjährung. Totschlag verjährt zum Beispiel nach 20 Jahren", erklärt Eigner. Manchmal reichen aber auch die Indizien nicht. Der Ermittler erinnert sich an einen Strichermord an einem homosexuellen Geschäftsmann aus der Schweiz im Bahnhofsviertel. Helmut Eigner ist sich sicher, den Täter zu kennen.

Der Mörder hatte die neuen Schuhe des Opfers gestohlen und seine alten, ausgelatschten zurückgelassen. Im Labor der Spurensicherung im Polizeipräsidium konnte eine Mischspur an den alten Asservaten gefunden werden. Die Spur führte zu einem älteren Mann mit krimineller Vergangenheit. Seine DNA passte zur Mischspur, sein Fußabdruck zu Schweißabdrücken in den Schuhen. Doch der Verdächtige stritt alles ab – und kam wieder frei. "Es hat nicht gereicht für eine Anklage. Damit muss man leben", sagt Eigner.

Leben müssen die Altfall-Ermittler auch damit, dass sie alles stehen und liegenlassen müssen, wenn aktuell ein Mord geschieht. Dann bleiben die "Cold Cases" wieder liegen – im schlimmsten Fall monatelang.

Da haben es die Ermittler der neuen Spezialeinheiten in Hamburg oder NRW besser: Sie können sich ausschließlich um die Verbrechen von früher kümmern. Die aktuellen bearbeiten andere.

Hier lagern Drogen, Geld, Waffen - und Sedlmayrs Schreibmaschine

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