Überwältigend: "All of us Strangers"

Für einige Momente ist man irritiert. Was wiederum die Aufmerksamkeit steigert und das Popcorn vergessen lässt, das Adam auf seinem Sofa vor dem Bildschirm in seinem modernen Londoner Appartement isst. Im Hintergrund ist die blaue Stunde, aber die Silhouette der Großstadt, die man durch die großen Scheiben sieht, ist merkwürdig unbeleuchtet, wie bei einem Black-Out. Erst später wird man sie mit erleuchteten Fenstern wiedersehen.
Ist alles ein Traum? Später im Film wird Adam (Andrew Scott) mit dem Zug in die Vorstadt fahren, zu seinem Elternhaus im Grünen. Ein Mann wird die Tür öffnen - etwas jünger als der Mittvierziger Adam selbst. Seine ebenfalls zu junge Mutter umarmt ihn mit den Worten "unser Sohn". Beide sind Mitte der 80er bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Adam war zwölf. Aber jetzt ist er wieder da und besucht sie damals. Und auch bei den kommenden Besuchen ist Adam in einer Zeitschleife, die er nutzt, um mit seinen Eltern ins Gespräch zu kommen - über Nähe und Fehler, Einsamkeit und Vertrauen.
Real oder surreal
Diese surrealen Vergangenheitsbesuche sind hier natürlich und real dargestellt. Sind sie das Drehbuch, an dem der Autor Adam grade schreibt? Und wenn Harry (Paul Mescal), der ein paar Stockwerken über ihm wohnt, leicht betrunken an Adams Wohnungstür klingelt, ist das der Beginn einer wunderbaren Freundschaft und Liebe. Aber auch hier ist nicht ganz klar, ob hier ein Wunschtraum durchgespielt wird oder die Wirklichkeit.
Was sich erst einmal kompliziert anhört, löst sich in diesem schönen Liebesfilm auf - in einem zeitlichen und logischen Schwebezustand, den man als Zuschauer ganz einfach akzeptiert, weil man in einem dramaturgisch genialen Film sitzt, der in seiner leichten Unbestimmtheit den Blick auf das Wesentliche freigibt: "The Power of Love" - der Song von Frankie Goes to Hollywood, der aus Adams Boxen tönt, zusammen Liedern von Bronski Beat oder den Pet Shop Boys, aus der Zeit, als Adam sozialisiert wurde. Und natürlich hat man schnell gemerkt, dass es bei Adam auch um seine Homosexualität geht und die Einsamkeit, die aus ihr resultiert - aus der Aids-Zeit, seiner Jugendzeit ohne die Eltern, aus seinem Kampf um sein Coming-Out.
Universelle Liebe
Aber - und das ist das Schöne: Liebe und Sex zwischen zwei Männern ist hier gleichzeitig Thema und doch völlig universell in ihrer Erfahrungswahrhaftigkeit: Liebe als Ausgang des Menschen aus seiner - nicht immer - selbstverschuldeten Einsamkeit.
Der fantastische Liebesfilm "All of Us Strangers" schließt uns alle ein. Und es ist schön, dass Andrew Haighs Film dabei eine große Humanität ausstrahlt: Zwar will die Mutter erst von Adams Schwulsein nichts wissen - "Hast Du eine Freundin?" fragt sie. Der Vater wiederum gibt zu, dass er es schon immer wusste, aber damals zu befangen war, seinem Sohn den Rücken zu stärken und mit ihm über alles zu reden. Aber beide Eltern sind lieb und liebenswürdig, und das Familienleben war eben nicht traumatisch, auch wenn es zu früh endete.
"Alles ist anders heute", erklärt Adam seiner Mutter, und meint auch den Fortschritt in der Liberalität beim Umgang mit anderen Lebensstilen und Orientierungen. So ist "All of Us Strangers" letztlich versöhnlich, verzeiht Versagen als menschliche Schwäche. Und es wäre schön, wenn dieses Meisterwerk aus der Publikumsnische eines queeren Films herausfinden würde, denn alles - Liebe, Familie, Verzeihen und Glücklichwerden - sind hier ein zu faszinierendes, elegantes, romantisches und modernes Kinoerlebnis, um es nur einer Minderheit zu überlassen.
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