Zweites Verfahren im Fall Peggy: Auf ein Neues
Bayreuth - Vor fast genau zehn Jahren, am 30. April 2004, verurteilte das Landgericht Hof den geistig zurückgebliebenen Gastwirtssohn Ulvi Kulac wegen Mordes an der kleinen Peggy Knobloch aus Lichtenberg zu lebenslanger Haft. Nächsten Donnerstag beginnt in Bayreuth das Wiederaufnahmeverfahren – und nicht nur Kulacs Anwalt Michael Euler ist fest davon überzeugt, dass der 36-Jährige diesmal frei gesprochen wird.
Unabhängig davon ermittelt die Staatsanwaltschaft Bayreuth seit geraumer Zeit erneut im Fall des neunjährigen Mädchens, das am 7. Mai 2001 spurlos verschwand. Die AZ beantwortet die wichtigsten Fragen zu den aktuellen Entwicklungen.
Warum wurde dem Wiederaufnahmeantrag von Anwalt Euler stattgegeben?
Entscheidend waren laut Gericht zwei Punkte:
Die Verurteilung 2004 stützte sich unter anderem auf die Aussage eines V-Mannes, der mit Ulvi Kulac in der Psychiatrie war. Er hatte behauptet, der Gastwirtssohn habe ihm verraten, dass er Peggy umgebracht hat. 2010 gab der Zeuge vor dem Ermittlungsrichter zu, dass er gelogen hatte.
Grund zwei ist komplexer: Nach stundenlangen Verhören – ohne Anwalt und im entscheidenden Moment auch ohne Aufnahmegerät – hatte Ulvi Kulac bei der Polizei gestanden, Peggy ermordet zu haben. „Er war psychisch am Ende und hat unwahrscheinliche Angst gehabt, er wollte einfach seine Ruhe haben“, sagt Anwalt Euler. Ein Gutachter sollte trotzdem die Glaubwürdigkeit des Geständnisses prüfen – und hielt es für echt. Begründung: Die Polizei habe damals keine Ahnung gehabt, was mit Peggy geschehen sein könnte, Ulvi Kulac also nichts suggerieren können.
Das ist falsch. Heute weiß man, dass sich die Ermittler vor der Vernehmung von einem Münchner Profiler eine „Tathergangshypothese“ erstellen ließen.
Was bedeutet ein Freispruch für Ulvi Kulac?
Dass er nicht mehr als Mörder gilt. Ob er aus der Psychiatrie entlassen wird, ist unklar. Dort wird er wegen sexuellen Missbrauchs anderer Kinder behandelt. Die Haftstrafe aus dem ersten Peggy-Prozess hat er bislang nicht angetreten. Seit kurzem darf er die Klinik aber zwei Mal pro Woche mit einer Betreuerin oder seinen Eltern verlassen.
Wenn Ulvi Peggy nicht getötet hat – wer war es dann?
Die derzeit heißeste Spur hat die Polizei zwei Münchner Journalisten zu verdanken – Ina Jung und Christoph Lemmer, den Autoren des Sachbuchs „Der Fall Peggy“, von dem zum Prozess ein E-Book erschienen ist, das regelmäßig aktualisiert wird. Den Reportern war aufgefallen, dass sich Peggy in den Monaten vor ihrem Verschwinden verändert hatte: „Plötzlich sackten ihre Leistungen in der Schule ab. Sie kaute ihre Fingernägel ab und malte Männchen mit übergroßen Genitalien.“ Hinweise auf einen Missbrauch? Vielleicht.
Damals war ein Mann aus Halle häufig bei einer Nachbarsfamilie zu Gast, der Anfang 2013 zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde, weil er seine zweijährige Tochter missbraucht hatte: Holger E.(29). Im Dezember 2013 erhob die Staatsanwaltschaft Bayreuth ebenfalls Anklage gegen ihn. Der Vorwurf: Holger E. soll 2001 auch seine Nichte missbraucht habe. Sie war damals genau so alt wie Peggy und wohnte neben an.
Holger E. kannte Peggy. Er trug ein Amulett mit ihrem Foto um den Hals und hängte im Gefängnis ein Foto von ihr an die Wand. Außerdem hat er gestanden, dass es zwischen ihm und Peggy zum „Austausch von Zärtlichkeiten“ gekommen sei. Sein Alibi für den Tag, an dem Peggy nicht mehr nachhause kam, ist widerlegt.
Wo ist die Leiche?
Sie wurde nie gefunden. 2013 suchte die Polizei drei Mal nach Peggys sterblichen Überresten: Sie ließ den Hof eines einschlägig vorbestraften Lichtenbergers umgraben. Sie ließ das Grab einer alten Dame öffnen, die wenige Tage nach Peggys Verschwinden beerdigt worden war. Und sie durchsuchte das Anwesen von Holger E. in Sachsen-Anhalt. Alles ohne Erfolg.
Könnte Peggy entführt worden sein? Die Fahnder ermittelten anfangs auch in diese Richtung. Sie vermuteten, der türkische Stiefvater könnte Peggy in seine Heimat verschleppt haben. Aus Rache, weil er herausgefunden hatte, dass Peggys kleine Halbschwester nicht von ihm war. Michael Euler sagt: „In den Ermittlungsakten ist eine ganze Reihe von möglichen Motiven aufgelistet. Von Geldproblemen, die durch eine Zwangsheirat gelöst werden sollten, bis zu sexuellem Missbrauch.“ Der Verdacht ließ sich 2001 nicht erhärten.
Doch offenbar hatte Peggys Mutter so große Angst vor einer Kindsentführung, dass sie darüber mit ihrem Psychiater sprach. Vor wenigen Wochen wurde der Arzt von den neuen Ermittlern dazu vernommen.
Staatsanwalt ausgetauscht
Er hat das Wiederaufnahmeverfahren befürwortet und die neuen Ermittlungen im Fall Peggy vorangetrieben: der Bayreuther Oberstaatsanwalt Ernst Schmalz. Am Mittwoch wurde er überraschend ausgetauscht, um den neuen Prozess „frei von jeglichen Belastungen“ zu halten, wie es in einer Pressemitteilung heißt. Bei einer Vernehmung habe Schmalz einem Verdächtigen den Anwalt vorenthalten, so die Begründung, und deshalb um seine „Entbindung“ gebeten. Bei Prozessbeobachtern sorgt die Auswechslung kurz vor Verfahrensbeginn für große Verwunderung. Den engagierten Ermittler jetzt aus dem Verkehr zu ziehen, sei ein Skandal, sagt einer.