"Zunehmende Misstrauenskultur": DGB geht mit Karenztagsdebatte hart ins Gericht

München - Einst ist der deutsche Michel fleißig und leistungsfähig gewesen. Doch in den letzten Jahren ist er fauler und verweichlichter geworden. Das ist zumindest eine Lesart, die sich aus der Zahl der Krankschreibungen ergibt.
Im Jahr 2018 sind es noch durchschnittlich 10,6 Krankheitstage pro Kopf gewesen, bis 2023 ist die Zahl auf 15,1 hochgeklettert, wie das Statistische Bundesamt mitteilt. Faktisch sind es sicher noch mehr, denn die Statistik umfasst lediglich Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die oft erst ab dem dritten Tag abgegeben werden.

Vorschlag von Allianz: keine Lohnzahlung am ersten Krankheitstag – Karenztag-Debatte angekurbelt
Die Folge der steigenden Fehlzeiten: Das Arbeitsvolumen sinkt und die Wirtschaft leistet weniger. Allianz-Chef Oliver Bäte hatte daher vorgeschlagen, den Karenztag wieder einzuführen (AZ berichtete). Das heißt, der Arbeitnehmer bekommt am ersten Krankheitstag keinen Lohn.
FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle schlägt stattdessen vor, einen steuerfreien Bonus für jeden Monat ohne Krankschreibung auszuzahlen. Das ist jedoch bereits jetzt möglich, teilt die Industrie- und Handelskammer (IHK) München und Oberbayern der AZ mit.

Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw), hält die Wiedereinführung des Karenztages für eine geeignete Maßnahme, um die hohen Krankenstände zu reduzieren. Den FDP-Vorschlag findet er zwar interessant, allerdings müssten die Betriebe die Prämie auszahlen. "Wir wenden uns gegen zusätzliche Belastungen der Arbeitgeber", sagt Brossardt der AZ.
VdK: Vorschläge seien "völlig verfehlt"
Verena Bentele, die Landesvorsitzende des VdK Bayern, hält die vorgeschlagenen Maßnahmen hingegen für "völlig verfehlt". "Der Lohnausfall von auch nur einem Tag kann gerade für Menschen, die wenig verdienen und nicht daheim arbeiten können, zu spürbaren finanziellen Engpässen führen", sagt sie der AZ.

Bernhard Stiedl, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) Bayern, ergänzt auf Nachfrage der AZ, dass Beschäftigte so unter Druck gerieten, krank zur Arbeit zu gehen. "Ansteckungen, Fehler und Unfälle sind so vorprogrammiert", warnt er. Im schlimmsten Fall würden Erkrankungen verschleppt und chronisch. "Damit spart der Arbeitgeber also gar nichts", sagt Bentele vom VdK.
Deutschen werden wirklich mehr krank
Maßnahmen wie der Karenztag würden mehrheitlich die Falschen treffen, denn laut dem aktuellen Gesundheitsreport 2025 der DAK-Gesundheit, einer der größten Krankenkassen in Deutschland, ist mehr als ein Drittel der zusätzlichen Fehltage auf die verstärkten Erkältungswellen und Corona-Infektionen zurückzuführen.

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung weist zudem darauf hin, dass durch den demografischen Wandel die Erwerbstätigenquote Älterer (55 bis 64 Jahre) von 1995 bis 2022 um knapp 36 Prozent gestiegen ist. Fehlzeiten nehmen mit steigendem Alter zu.
Krankschreibungen werden statistisch besser erfasst
Die Deutschen werden also tatsächlich kränker. Aber nicht so viel kränker, wie die nackten Zahlen einen glauben machen. Durch die Einführung der elektronischen Krankschreibung (eAU) ist die Zahl der Atteste von 2021 auf 2022 sprunghaft angestiegen – um fast 40 Prozent. Hintergrund: Durch das neue Meldeverfahren gehen alle Atteste automatisch bei den Krankenkassen ein.
Dass die telefonische Krankschreibung Menschen dazu verleitet, sich öfter krankzumelden, wie es etwa die vbw befürchtet, zeigen die Daten der DAK nicht. Nach der Einführung habe es keinen Anstieg bei Krankschreibungen wegen leichter Atemwegserkrankungen gegeben und auch 2023, als sie ausgesetzt wurde, sind diese nicht wieder zurückgegangen.

Laut Stiedl vom DGB zeigt sich daran eine "zunehmende Misstrauenskultur" gegen Beschäftigte. Der DAK zufolge holen Arbeitnehmer immer öfter schon am ersten Tag ein Attest, um den Verdacht auszuräumen, sie würden "blaumachen".
Bessere Kinderbetreuung und Tagespflegeplätze beugen Krankheit vor
Wenngleich der Anstieg der Krankentage nicht so heftig ist, wie er scheint, ist er dennoch real und muss bekämpft werden. Der DGB nimmt die Arbeitgeber in die Pflicht, für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen. "Gerade in Branchen mit Fachkräftemangel und Personalengpässen sehen wir überdurchschnittlich viele Krankmeldungen", sagt Stiedl. Es bräuchte deshalb mehr Personal und allgemein weniger Druck.
VdK-Chefin Bentele wirbt neben der betrieblichen Prävention dafür, die Kinderbetreuung und Tagespflegeplätze auszubauen und so einer Überlastung der Arbeitnehmer vorzubeugen.