Zucker raus aus dem Stoff
NÜRNBERG -Nürnbergs Ballettdirektor Goyo Montero plant "Dornröschen" im Opernhaus als "Update": Märchen und Musik werden von hinten aufgezäumt
Wenn man es unbedingt auf der Position Weihnachtsmärchen sehen will – „warum nicht?“ antwortet Goyo Montero rhetorisch. Immerhin sei dies „eine gute Zeit zum Reflektieren“, die Ereignisse des ablaufenden Jahres „zu analysieren“. Und da passe die Thematik von „Dornröschen“ durchaus dazu. Aber eigentlich will Nürnbergs Ballettdirektor Goyo Montero, der sich mit seiner dynamischen Compagnie die Stadt verblüffend schnell erobert hat, aus dem Klassiker auf Tschaikowsky-Sound „allen Zucker rausholen und zur Quelle vorstoßen“. Premiere ist am 12. Dezember im Opernhaus mit den Philharmonikern.
Ins Gespräch im Tanzsaal platzt Dornröschen, oder „Schlafende Schönheit“, wie sie Montero nennt, rein und lässt mit Schneidern im Schlepptau vom Chef Form und Farbe des Rosa-Tütü abnehmen. Dem Prinzen, der in schönster Rollenverteilung auf der Bühne fürs Wachküssen von Prinzessin Aurora zuständig sein wird, konnte man vorher schon im Aufzug begegnen. Da sprach der Spanier Iván Gil Ortega – im entsprechenden Fan-Ornat problemlos zu outen – aus aktuellem Anlass lieber über seine Liebe zum FC Barcelona.
Ortega war schon dabei, als Montero seine „Dornröschen“-Choreographie 2006 in Valencia uraufführte. Und die dann Türöffner für das Engagement in Nürnberg wurde. Der spätere Staatsintendant Peter Theiler als Dienstreisender war von Monteros Qualität überzeugt. Nach einer Zweitfassung für Italien ist das Nürnberger „Dornröschen“ nun für den spanischen Choreographen ein „Update“: „Ich versuche es immer noch ein Stückchen besser zu machen. Und weil ich hier jetzt meine eigene Compagnie habe, mit der ich stärker an Details, an Charakteren arbeiten kann, und noch dazu ein starkes Orchester dabei ist, wird es hoffentlich auch die beste Interpretation.“ Schöner Nebeneffekt: So könne man dieses Schlüsselstück der Ballettgeschichte „ins Repertoire einziehen lassen“.
Der erweckende Kuss des Prinzen erweist sich als reine Illusion
Montero zäumt die Geschichte samt Musik von hinten auf. Der erweckende Kuss steht - nach einer abwehrenden Watschn für den aufdringlichen Prinz (Dornröschen ist ja wirklich kein wehrloses Objekt der Begierde) – am Anfang und erweist sich als Illusion. Was folgt, ist „die Reise des Prinzen“, die sich vom gestanzten Märchenglück löst: „Wie im richtigen Leben muss man immer sehr viel kämpfen für das richtige Ergebnis“.
Nicht die Gebrüder Grimm standen Pate, sondern ein wesentlich älteres französisches Märchen, weil sie wilder und grausamer war. Er verbindet die klassische Story, die für ihn „völlig zeitlos“ ist, mit einem dunklen Nullpunkt im zweiten Akt, wo die „schlafende Schönheit“ nur noch im Kopf anwesend ist: „Wir spielen mit den Reflexionen des Prinzen“. Von „reich“ bis „ganz einfach“ auf kahler Bühne entwickelt sich die Stimmung.
25 Tänzer kündigen große Bilderdynamik an: „Ich mag es, mit Gruppen zu arbeiten“, sagt Montero. „Tschaikowsky kann man nicht mit einem Einzigen spielen. Der hat doch gar nicht ausreichend Kraft.“ Von der Musik Tschaikowskys, der für den Choreographen Montero zum „großen Thrill“ wurde, wurde nicht „eine Note geändert“, versichert er. Aber durch die Umstellungen ergäben sich komplett neue Schattierungen und Bezüge. „Normalerweise weiß man ja bei einem so berühmten Stück, was kommt. Aber das will ich nicht für mein Publikum. Ich will Erwartungshaltungen wecken und überraschend vorgehen.“
Warum müht er sich dann mit bekannten Figuren wie „Romeo und Julia“ und Otello ab? „Neue Sichtweisen auf das zu finden, was schon viele Male erzählt wurde, das ist ist die Herausforderung für mich.“ Das sei nicht komplizierter, sondern einfacher, weil die Farben schon vorhanden seien. Und weil Montero sich auch als Amme einer Truppe sieht, die er mit in einen Lernprozess nimmt und dem Erfolg immer einen Schritt voraus sein will, wollte er erst demonstrieren, „welche Compagnie wir in Nürnberg überhaupt haben“. Jetzt entstünden neue Ausdrucksformen“, sagt er und verweist auf die nächsten Produktionen: „Kommunizierende Röhren“ und „Traum der Vernunft“.
Andreas Radlmaier