Zeitzeuge (96) aus Bayern spricht über den Kriegs-Irrsinn: "An der Front kam mir die Angst"

Am 23. April vor 79 Jahren ist das KZ in der Oberpfalz befreit worden. Lorenz Zitzmann (96) ist ein Zeitzeuge, der unfreiwillig nah am Geschehen war. Der AZ hat er von seinen schrecklichen Erlebnissen berichtet.
von  Thilo Komma-Pöllath
Eine Hinweistafel auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in der Oberpfalz.
Eine Hinweistafel auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in der Oberpfalz. © Armin Weigel/dpa

Flossenbürg – Wenn Lorenz Zitzmann (96) heute von seinem Beruf erzählt, den er ein halbes Jahrhundert ausgeübt hat, dann bekommt man schon nach wenigen Minuten ein beklemmendes Gefühl.

Man sieht ihn vor sich, wie er als junger Mann mit Stoßbesen und Schultereisen bewaffnet in die engen, verrußten Kaminschächte der Häuser einsteigt und Halt sucht. "Platz- und Höhenangst hast ned haben dürfen, wenn du ein Schlotfeger sein wolltest", erzählt Zitzmann, "und am Ende wurde man immer dunkelschwarz". Es gibt ein paar wenige Bilder von ihm, wie er als junger Mann in den Nachkriegsjahren in einer weißen Oberpfälzer Schneelandschaft steht, der Kontrast zu seinem traditionellen schwarzen Kehranzug und dem verrußten Gesicht könnte kaum größer sein.

Fünf Reichsmark die Woche

Dabei ist Zitzmann aus Waldthurn, Jahrgang 1927, weit mehr als ein gewöhnlicher Kaminkehrer, vielmehr ein selten gewordener Jahrhundertzeuge des dunkelsten Kapitels deutscher Vergangenheit. Es war der 1. Oktober 1942, als er mit 15 Jahren seine erste Lehrstelle bei Bezirkskaminkehrer Karl Wührer in Waldthurn antrat. So ist es in seinem Arbeitsbuch des Deutschen Reichs nachzulesen. Im März 1942 hatte er mit der achten Klasse seine "Volksschulpflicht" in Waldthurn erfüllt. Als Schlotfegerlehrling bekam Lorenz von seinem Lehrherr Wührer fünf Reichsmark die Woche.

Nach drei Tagen Einarbeitung mussten die drei minderjährigen Lehrlinge die anfallende Arbeit übernehmen, "während der sich eine schöne Zeit machte", so Zitzmann. Und die Arbeit war anstrengend. Die oft stundenlangen Fußmärsche bei Sturm, Schnee und Kälte zu den abgelegenen Einöden des Kehrgebietes brachten ihn an den Rand der Erschöpfung.

Kaum angelernt, bekam er eine besondere Mission aufgetragen, die sich der Chef aus gutem Grund selbst lieber ersparen wollte. Alle vier Wochen mussten zwei Tage lang auch die Feuerstätten im nahen Konzentrationslager Flossenbürg gekehrt werden.

Das Bild zeigt Lorenz Zitzmann als jungen Mann in den Nachkriegsjahren in einer weißen Oberpfälzer Schneelandschaft stehend.
Das Bild zeigt Lorenz Zitzmann als jungen Mann in den Nachkriegsjahren in einer weißen Oberpfälzer Schneelandschaft stehend. © privat

"Tut, was man euch sagt, lacht nicht!"

Als Karl Wührer die Jugendlichen das erste Mal auf ihre "besondere Aufgabe" vorbereitete, spürte der Lehrling, wie nervös der Meister wurde. "Tut, was man euch sagt. Redet mit niemandem, fasst nichts an, lacht nicht!" Vor jedem neuen Flossenbürg-Besuch wiederholte Wührer seine Ansprache im Wortlaut.

Dann war es soweit, sein erster Besuch im KZ Flossenbürg im Herbst 1942. Es war kalt und Zitzmann radelte in seinem schwarzen Kehranzug die neun Kilometer von Waldthurn nach Flossenbürg. "Das Lager war ein anderer Arbeitsplatz als jeder andere zuvor und danach", erinnert er sich bei einem Rundgang über die heutige KZ-Gedenkstätte in Flossenbürg im November 2022.

 Rund 30.000 Menschen ermordet

Die penible Personenkontrolle am Tor, überall Wachposten, das Gebrüll und immer ein Aufseher, der ihn auf Schritt und Tritt bei der Arbeit begleitete, so dass er ständig unter Beobachtung stand.

Tatsächlich durfte Lehrling Lorenz das Gefangenenlager im hinteren Bereich des KZ gar nicht betreten, sondern war ausschließlich für die Feuerstätten im davor liegenden SS-Bereich zuständig: Verwaltungs- und Funktionsgebäude, Küche, Casino oder die Wohnhäuser der SS-Leute am Rande des Lagers. Das war großes Glück für ihn.

Für das Krematorium von Flossenbürg, in dem Tausende Gefangene verbrannt wurden, war ein Sonderkommando aus Häftlingen zuständig. Insgesamt wurden in Flossenbürg rund 30.000 Menschen ermordet. Aber auch so sah Lorenz Zitzmann mehr, als einem 15-Jährigen gut tat. "Zaundürre Menschen aus Haut und Knochen und Pickel in der Hand, die im Steinbruch arbeiten mussten", erinnert sich Zitzmann.

Einmal habe er gesehen, wie auf dem Appellplatz ein Mann mit am Rücken zusammengebundenen Händen aufgehängt wurde. Immer wieder habe er beobachten können, wie Häftlinge geschlagen und unmenschlich behandelt wurden. "Als ich das erste Mal vom Lager zurückkam, war ich schockiert", erzählt Zitzmann ziemlich genau 80 Jahre danach am Ort des Schreckens. Der 15-Jährige erzählte seiner Mutter Maria von dem, was er gesehen hatte, die von dem Tag an Angst um ihren Sohn bekam, wenn er nach Flossenbürg musste. Er glaubt, dass seine Mutter von ihm erfahren habe, was in Flossenbürg wirklich vor sich ging.

Die Erlebnisse im Lager verfolgen ihn noch lange im Traum

Nach dem ersten Schock versuchte der Lehrling, die Arbeit im KZ nicht zu nah an sich heranzulassen. "Mich hat das Lager nach dem Krieg mehr berührt als zu der Zeit, als ich da gearbeitet habe", erinnert sich Zitzmann. "Nach dem Krieg habe ich immer wieder vom Lager geträumt. Damals hatte man Angst, dass man seine Arbeit verliert, dass man selbst eingesperrt wird. Der Druck auf uns war gewaltig." Zitzmann nennt es den "Hitlerdruck". Dass man in Flossenbürg und im ganzen Landkreis jahrzehntelang so tat, als hätte man von nichts gewusst, hält Zitzmann für eine "Lüge". Als Beispiel nennt er die regelmäßigen Gefangenentransporte durch den Ort und die täglichen Logistiktransporte mit Flugzeugteilen vom KZ zum Bahnhof Flossenbürg.

Ein dreiviertel Jahr nach Beginn seiner Lehrlingsausbildung, im August 1943, bekam Zitzmann seinen Marschbefehl. Er glaubt heute, hätte er seinem Chef seinen Einrückungsbescheid gezeigt, hätte der ihn aufgrund seines Alters – einen Monat vor seinem 16. Geburtstag - als wertvolle Arbeitskraft zurückstellen lassen.

Auf die Idee sei er selbst gar nicht gekommen, sagt Zitzmann heute, schließlich seien wir alle so erzogen worden, "dass wir es als unsere patriotische Aufgabe verstehen, in den Krieg zu ziehen". Mit sechs Jahren sei er als Trommler zum "Jungvolk" gekommen, mit eigener Uniform, Appell und Geländespielen, die nichts anderes gewesen seien als "Kriegsimitationen".

An seinem letzten Arbeitstag nahm Meister Wührer Zitzmann mit ins Wirtshaus. Zu dessen Ausstand bestellte er zwei Bier, als zufällig ein Polizist die Gaststätte betrat. Als er den jungen Lorenz vor dem Bier sitzen sah, fing er unmittelbar ein lautes Gebrüll an, wie es denn sein könne, dass man schon einem Kind ein Bier zu trinken gebe, dann zerrte er ihn am Kragen aus der Kneipe.

"An der Front kam bei mir die Angst hoch"

Bereits am nächsten Morgen ging sein Zug zum Kriegsdienst. Im Zug waren etwa 50 weitere minderjährige Jugendliche, die in Österreich und der Tschechoslowakei für ihren Einsatz an der Front vorbereitet werden sollten. "Was vor allem hieß: gehorchen und schießen lernen", erinnert sich Zitzmann.

Alle Kameraden seien bis aufs Blut gequält worden, diejenigen, die geweint haben, wurden aussortiert. Auch er selbst brachte wenig Talent für den Krieg mit. Sein "Leistungsnachweis der Wehrausbildung" vom 21. Dezember 1944 bescheinigt ihm beim "Schießen mit Gewehr" oder dem "Gebrauch der Handgranate" nur ein "zufriedenstellend".

Nach zwei Tagen Heimaturlaub in Waldthurn wurde Zitzmann mit seiner 100-Mann starken Einheit in den Zweiten Weltkrieg geschickt. Stationiert im Osten von Belgien war das Ziel die Rückeroberung des Hafens von Antwerpen. Die sogenannte "Ardennenoffensive" war die letzte große Offensive der Wehrmacht, um die drohende Niederlage noch abzuwenden.

Wer nicht schoss, der wurde erschossen

"Erst jetzt, hier an der Front, kam bei mir die Angst hoch", erzählt Zitzmann und man spürt wie ihm die Erinnerungen immer noch physisch im Nacken sitzen. Man drückte ihm eine Maschinenpistole MP40 in die Hand und befahl ihm zu schießen. Er lag auf dem Boden, richtete sein Maschinengewehr Richtung Feindeslinie, nahm seinen Kopf runter, machte die Augen zu und hielt drauf. Alle taten das. Wer nicht schoss, der wurde erschossen. Wer den Kopf hob, war schon tot.

"Ob ich getroffen habe, ob ich getötet habe, ich weiß es nicht, ich will es gar nicht wissen", sagt Zitzmann, dem beim Erzählen die Tränen kommen.

Lorenz Zitzmann berichtet im Alter von 96 Jahren über seine Erlebnisse als Schornsteinfeger im KZ Flossenbürg.
Lorenz Zitzmann berichtet im Alter von 96 Jahren über seine Erlebnisse als Schornsteinfeger im KZ Flossenbürg. © Gabi Schönberger

Und doch: Er hat Glück. Seine Einheit wird bis kurz vor den Bodensee zurückgedrängt, viele Kameraden fallen, er nicht. Was in der Folge passiert sein muss, kann er nicht selbst erzählen, lässt sich aber auf dem Aufnahmeschein des Lazaretts in Obergünzburg nachlesen, in das Zitzmann am 14. Februar 1945 als Kriegsverwundeter eingeliefert wird. Ein "Commotio Cerebri" wird diagnostiziert, ein Schädel-Hirn-Trauma, das sich Lorenz Zitzmann beim Einsturz eines Hauses in Folge eines Bombenangriffs zugezogen hat. Er sei dabei am Kopf getroffen und bewusstlos aus einer Scheune geborgen worden, so steht es im Krankenblatt. Nach gut drei Monaten, am 19. Mai 1945, wird er – die Ärzte bescheinigen ihm ein "gutes Allgemeinbefinden" und "die Wunden am Kopf sind fast abgeheilt" – in den Landkreis Markt-Oberdorf zum Einsatz in die Landwirtschaft entlassen.

Bis zu seiner Pensionierung arbeitet er als Kaminkehrer

Zitzmann erinnert sich an einen "eingezäunten Acker", auf dem er seinen Arbeitsdienst in Gefangenschaft ableisten muss. Bereits eineinhalb Monate später, am 4. Juli 1945, kehrt er nach Hause zu zurück. Sein Vater Josef war kurz vor ihm unverletzt aus US-Kriegsgefangenschaft entlassen worden.

Die schnelle Rückkehr aus der Gefangenschaft belegt auch, dass die Familie Zitzmann keine überzeugten Nationalsozialisten waren. Vater Josef sei unpolitisch gewesen, im Kreise der Familie habe man sich oft über Hitler lustig gemacht, sagt Zitzmann.
Lorenz Zitzmann kehrt am 23. Juli 1945 in sein richtiges Leben zurück. So steht es im Reichsarbeitsbuch. An diesem Tag nimmt er seinen alten Ausbildungsplatz bei Kaminkehrermeister Karl Wührer in Waldthurn wieder ein.

Am 28. September 1946 legt Zitzmann in Regensburg die Gesellenprüfung für das "Schornsteinfegerhandwerk" ab, so ist es im Lehrbrief nachzulesen. Am 14. April 1947 unterzeichnet er seinen ersten Arbeitsvertrag als Geselle, 1967 übernimmt er als Meister den Kehrbezirk Kirchenthumbach, 1973 wird er Bezirkskaminkehrermeister im Landkreis Eschenbach und bleibt es bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1992.

Das soziale Miteinander steht für ihn im Fokus

Die Erlebnisse im Krieg haben Lorenz Zitzmann politisch nachhaltig geprägt. In den 70er und 80er Jahren sitzt er für die SPD zwölf Jahre lang im Stadtrat von Eschenbach. Das soziale Miteinander ist ihm wichtig, er leitet etwa den Feuerwehrverein, ist Vorstand im Sportclub. 1952 heiratet er Erika, sie bekommen drei Töchter.

Heute lebt Zitzmann in einem Seniorenheim in Eschenbach und ist immer noch erstaunlich wach. Wenn seine Töchter ihn besuchen, bringen sie ihm Sahnetorte mit, die er liebt. Bier trinkt er nur noch selten, er vertrage es nicht mehr so, klagt er.

Und dann muss er an sein allererstes Bier denken, das er noch nicht trinken durfte. Damals im August 1943, als er mit 15 Jahren von einem Nazi in Waldthurn hochkant aus dem Wirtshaus geschmissen wurde. Zitzmann sagt: "Bier trinken hab ich ned dürfen, Leut' totschießen scho".

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