Zahlensalat um Rechtsextremismus: Grüne wundern sich über Innenministerium
München – Es ist ein knappes Jahr her: Katharina Schulze und ihr damaliger Grünen-Co-Fraktionschef Ludwig Hartmann waren bei einer Wahlveranstaltung in Neu-Ulm, als ein Mann einen Stein auf die beiden warf. Die Generalstaatsanwaltschaft in München hat den Fall wegen der politischen Dimension des Verfahrens übernommen. Der Mann wird von den Behörden der Reichsbürger- und auch der Querdenker-Szene zugeordnet.
Am Dienstag geht es aber im Bayerischen Landtag nicht um persönliche Betroffenheit Schulzes, sondern die Situation in ganz Bayern. Die Grünen stellen ihr "Lagebild Rechtsextremismus 2023" vor. Schulze und Cemal Bozoglu, Sprecher für Strategien gegen Rechtsextremismus, warnen vor steigenden Zahlen.
Neuer Höchststand bei Hasskriminalität
Die Straftaten im Bereich der Hasskriminalität erreichen laut Bericht in Bayern einen neuen Höchststand. 1867 Delikte im Jahr 2023 entsprächen einem Anstieg um 57 Prozent in nur einem Jahr. Laut Grünen sind mehr als zwei Drittel der Delikte rechts motiviert.
Bei rassistischen, ausländer- und "fremdenfeindlich" erfassten Straftaten gebe es ebenfalls einen Anstieg von 56 Prozent. "Zwar nahm die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten im Vergleich zum Vorjahr deutlich ab (minus 40 Prozent), gleichzeitig gab es aber doppelt so viele Gewalttaten (52)", heißt es in dem Bericht.
Lauern 143 verurteilte Rechtsextremisten im Untergrund?
Was Schulze besondere Sorge macht: 143 Rechtsextremisten aus Bayern wurden 2023 per Haftbefehl gesucht. Wobei die AZ auf Anfrage beim Innenministerium erfährt, dass es sich bei über zwei Drittel der Verfahren nicht um solche handle, die eine politisch motivierte Straftat zum Gegenstand hatten.
Eine anonymisierte Auflistung zeigt unter anderem Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz oder Delikte wie Diebstahl. Das Innenministerium weist außerdem darauf hin, dass es sich bei den Daten um eine Momentaufnahme zu einem Stichtag handle.
Schulze plädiert für AfD-Verbot
Für die Grünen liegt eine Hauptursache im Erstarken des Rechtsextremismus in der AfD. Die Grünen wollen daher erreichen, dass die AfD im Bund und in Bayern möglichst zügig von einem "Verdachtsfall" zu einer "gesichert rechtsextremen Organisation" hochgestuft wird.

Die Grünen plädieren dafür, dass die Jugendorganisation der AfD von staatlichen Förderungen ausgeschlossen wird. Deren Vorsitzender ist der Landtagsabgeordnete Franz Schmid, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Burschenschaften und "Alte Herren" unterschätzt
Bozoglu sieht eine Verantwortung bei der AfD für die steigenden Zahlen auch deshalb, weil sie mit ihrer Art, Politik zu machen, und mit den Inhalten, die sie in Parlamenten vertreten, die rechtsextreme Bewegung ermutigt werde und sich in der Lage fühle, sich auch in Richtung Gewalt zu entwickeln.
Er fordert zudem, bei Burschenschaften, die im gleichen Dachverband sind wie jene, die bereits jetzt wegen ihrer völkischen Ausrichtung beobachtet werden, genauer hinzuschauen. Wichtig sei auch, die "Alten Herren" dieser Burschenschaften zu beobachten.
Verwunderung über Statistiken
Schulze habe es "gewundert", dass die Auswertungszahlen des Bundes höher seien als die des Freistaats. Eine Anfrage von Bozoglu beim Innenministerium ergab, dass aus den von der Polizei als rechtsextrem bewerteten Taten zusätzlich ein "Rechtsextremismus-Marker" durch den Verfassungsschutz gesetzt wird.
Die Polizei hat bei ihrer Einstufung 3055 Taten im Jahr 2023 als rechtsextrem bewertet, der Verfassungsschutz setze jedoch nur bei 476 Taten den Marker. Noch 2019 lag der Marker bei 2103 Taten im Vergleich zu 2503 Taten, die die Polizei als politisch motivierte rechte Gewalt bewertet hatte. Die Grünen wollen daher die Erfassung reformieren.
Rechts oder verfassungsfeindlich rechtsextrem?
Ein Sprecher des Innenministeriums erklärt die Diskrepanz so: Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung seien das Kriterium für den Marker. Für die Würdigung als politisch motivierte rechte Gewalt genüge bereits ein Hinweis auf "rechte Orientierung".
"Insgesamt war in 2023 bei rechtsextremistischen Straftaten ein Minus von circa 40 Prozent zu verzeichnen, nachdem bereits von 2021 auf 2022 die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten um circa 55 Prozent zurückgegangen ist."
Er räumt jedoch ein, dass es viele Straftaten gebe, bei denen ein rechtsextremistisches Gedankengut nahe liege, jedoch nicht nachweisbar sei. Es gehe dabei oft um Beiträge in den sozialen Netzwerken von Jugendlichen oder jungen Heranwachsenden, "bei denen ein derartiges erstmaliges Verhalten in aller Regel nicht als extremistisch bewertet wird".