Wunden gibt es immer wieder

Bejubelte Uraufführung: Goyo Montero lässt am Nürnberger Opernhaus die Verführerin Carmen auf dem eigenen Mythos tanzen
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Carmen-Dreifaltigkeit in Rot: die Tänzerinnen Sophie Antoine, Sayaka Kado und Jaione Zabala.
Jesús Vallin Carmen-Dreifaltigkeit in Rot: die Tänzerinnen Sophie Antoine, Sayaka Kado und Jaione Zabala.

Bejubelte Uraufführung: Goyo Montero lässt am Nürnberger Opernhaus die Verführerin Carmen auf dem eigenen Mythos tanzen

Als Symbolfigur absoluter Freiheit, die weder Liebe noch Emanzipation zur Selbstbehauptung braucht und auch den Tod als Alternative akzeptiert, ist die Verführerin Carmen sogar aus folkloristischen Opern-Aufführungen bekannt. Für den Spanier Goyo Montero, der das Nürnberger Ballett mit einer Serie von effektgeladenen Stücken im öffentlichen Bewusstsein neu positioniert hat, bedeutet das mehr als Brüderschaft von Mythos und Klischee.

Der Choreograph stößt in der Uraufführung seines Tanz-Stückes „Carmen“, das auf Rodion Shchedrins schlagfertig pointierte Variation der populären Bizet-Musik und den als Prellbock eingepflockten Urknall des Flamenco setzt, durch die Kolportage-Oberfläche in dunkle Tiefen des Unterbewusstseins. Was er dabei findet, ist ein dekoratives Wurzelwerk knorriger Tradition, aus dem über einer Fülle von Psycho-Porträts und Revue-Ästhetik vor allem eins wuchert: Große Oper. Der Opfer-Marsch ins Mausoleum, mit dem die Aufführung pathetisch endet, ist kolossaler Kitsch - also sehr wirkungsvoll. Lang anhaltender Jubel war die Quittung.

Es geht nicht um erotische Anekdoten, wenn diese Carmen die Männer verwirrt. Goyo Montero macht aus der Figur ein Prinzip, indem er sie teilt. Über den drei Tänzerinnen im herausfordernd roten Kleid (Sophie Antoine, Sayaka Kado und die scheinbar immer wieder aus Almódóvar-Filmen grüßende Jaione Zabala) schwebt wie auf einem Walkürenfelsen die Flamenco-Solistin Esther Jurado als Urmutter-Ikone herbei. Sie stoppt den geschmeidigen Fluss von Klang und Spiel, setzt die Melancholie als Signal für schlummernde Gefühlsgewalt.

Trophäe für die Amazonen

Zu Beginn hatten drei Sängerinnen mit der opernoriginalen Karten-Szene („Karo Pik - der Tod“) gleich den Ton angestimmt. Die Carmen-Dreifaltigkeit geht auf Raubzug in eine Macho-Welt, der sie schon als Einzel-Person das Fürchten lehrte. Bei Montero mutiert sie zur sechsarmigen Krake, bedrohlich in jeder verführerischen Bewegung. Selbst der pomadisierte Torero Escamillo, den Saúl Vega in großer Pose mit irritiertem Blick spielt, verkümmert da zum Wanderpokal. Eine Trophäe für die Jagdlust des Amazonen-Kollektivs.

Die wahre Auseinandersetzung führt Don José, der schüchterne Junge in den Fängen eines nie für möglich gehaltenen Gefühls. Für Max Zachrisson wagt Choreograph Montero die weiteste Distanz von allen Erwartungen. Dieser blonde José, dem der Arien-Trost der braven Michaela weggestrichen ist, sucht vergeblich den Zugang zur anderen Welt, die seine Träume abstößt. Es ist als Kristallisationspunkt vieler Sehnsüchte die eigentliche Hauptfigur der Aufführung, die ihren Schöpfer zu den anrührendsten Szenen, zu den gefühlvollsten Pas de deux-Erfindungen anregt. In den 17 Szenen, die ansonsten ganz sachlich übertitelt sind, taucht der Begriff „Wunde“ als metaphysische Zustandsbeschreibung des zurückgestoßenen Verlierers auf. Wunden gibt es immer wieder, will Montero mit der vierfachen Wiederkehr des Reizworts wohl sagen, solange Verhältnisse nicht zu klären sind.

Auf der wandelbaren Bühne von Verena Hemmerlein, die den gerafften Stoff eines Theatervorhangs auch als schwarzes Szenen-Innenfutter verwendet, wird mit Rutschbahn und Podest gezaubert. Und Platz gemacht für Revue-Satire, wo der Soldaten-Wachwechsel als groteskes Männleinlaufen amüsiert. Das ist allerdings auch typisch für die anhaltende Gefährdung von Monteros Ästhetik, deren hektisch vitaler Bewegungsdrang die Poesie behindert. Der glänzenden, von Premiere zu Premiere technisch noch besseren Compagnie bietet das freilich alle Möglichkeiten zum Schaulauf.

Dirigent Philipp Pointner setzt Shchedrins melodientreue Bizet-Hommage als Percussion-Feuerwerk auf Streicher-Teppich angemessen plakativ um. Dass dieser Carmen mit Opern-Aura in Nürnberg im April eine Neuinszenierung der Oper folgen soll, gehört zur Kategorie schrulliger Planungs-Einfälle. Dieter Stoll

Nächste Vorstellungen: 16., 19., 25., 27. und 29. Dezember - Karten unter 0180-5-231.600

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