Wo das Wild noch immer strahlt

München - Zwei, drei Mal im Jahr kommt bei Edmund Lengfelder ein Wildschweinbraten auf den Tisch. Das Fleisch stammt von Jägern aus seinem Bekanntenkreis. Doch bevor der Braten in den Ofen geschoben wird, zückt der Münchner Strahlenbiologe und altgediente Atomkritiker einen Geigerzähler. „Ich werde sicherstellen, dass kein Becquerel aus Tschernobyl in meinen Körper kommt.”
Bis heute sind die Nachwirkungen von Tschernobyl zu spüren, vor allem in Süddeutschland. „Praktisch relevant” ist heute laut Bayerischem Landesamt für Umwelt nur noch das längerlebige Cäsium-137 mit einer Halbwertzeit von 30 Jahren. Halbwertzeit nennt man die Zeit, in der die Hälfte aller Atome einer Probe zerfallen sind. Cäsium-137 hat sich vor allem in Waldböden angesammelt.
Als besonders belastet gelten Teile des Bayerischen Waldes entlang der tschechischen Grenze, das Berchtesgadener Land, der südliche Landkreis Miesbach und eine große Zone westlich von Augsburg. „Überall dort, wo es Ende April 1986 starke Regenfälle und Gewitter gab”, sagt Lengfelder.
Damals herrschte das Informations-Chaos. Noch am 30. April 1986 betont die Bundesregierung von Kanzler Helmut Kohl, es bestehe keine Gefahr für die Bevölkerung. Im Lauf des Tages wird jedoch eine erhöhte Radioaktivität in der Luft registriert.
Am 2. Mai, ganze sechs Tage nach dem Unfall, ergreifen Bund und Länder „erste Sofortmaßnahmen”. Frischmilch darf nur noch bis zu einer bestimmten Jod-Belastung verkauft werden, die Einfuhr von Produkten aus osteuropäischen Ländern wird beschränkt. Die Einschätzungen der Behörden variieren dabei erheblich und reichen von „unbedenklich” bis „Katastrophengrenze”.
Zwei Tage später geht die Strahlung in der Luft zurück, steigt aber im Boden. Kinder sollen nicht auf Wiesen und in Sandkästen spielen, Bauern keine Freilanderzeugnisse verkaufen, heißt es jetzt. Noch am 13. Mai streiten sich das Bundesgesundheitsministerium und die Länder über Grenzwerte für Lebensmittel. Bauern, Einzelhandel und Nahrungsmittelindustrie fordern Entschädigungen. Ein Bundesumweltministerium, das Informationen bündeln und weitergeben könnte, gibt es noch nicht. Es wird erst am 6. Juni als Reaktion auf die Ereignisse gegründet.
Warum Wildschweine immer noch besonders belastet sind, erklärt der Bayerische Jagdverband: Die Tiere ernähren sich besonders gerne von sogenannten Hirschtrüffeln sowie Maronenröhrlingen, die als Radionuklidsammler gelten. Etwa zwei Prozent der durchschnittlich 45000 bis 50000 Wildschweine, die in Bayern pro Jahr erlegt werden, liegen über dem Grenzwert von 600 Becquerel. Dieses Fleisch muss von den Jägern in einer Tierkörperverwertungsanstalt abgeliefert werden.
Um sicherzustellen, dass in Bayern nur unbelastetes Wildbret auf den Tisch des Verbrauchers kommt, hat der BJV 64 Messstellen eingerichtet. Weitere zehn Stationen sollen in Kürze dazukommen. Reh- und Rotwild seien aufgrund ihrer anderen Ernährungsweise „so gut wie unbelastet”, schreibt der Jagdverband.
Andere Waldfrüchte, etwa Heidelbeeren, seien „nicht so tragisch”, sagt Lengfelder. Unter den Pilzen sieht er nur den besagten Maronenröhrling, den auch Wildschweine gerne fressen, kritisch. Für die beliebten Reherl und Steinpilze gibt der Experte Entwarnung. Schwammerl kann man wieder unbeschwert genießen.