Winfried Bausback: "Die Ausgangssperre trifft auch meine Familie hart"
München - AZ-Interview mit Windried Bausback: Der CSU-Politiker aus Ansbach sitzt seit 2008 im Landtag und war von 2013 bis 2018 Bayerns Justizminister. Zudem ist er Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht an der Universität Wuppertal.
AZ: Herr Professor Bausback, Bayern ist in den zweiten harten, nochmals verschärften Lockdown mit nächtlicher Ausgangssperre wie im Kriegszustand gegangen. Gelten die Grundrechte nicht mehr?
WINFRIED BAUSBACK: Davon kann keine Rede sein. Unsere Grundrechte haben beides, eine individuelle und eine soziale Dimension. Es geht um den Einzelnen, aber auch um die Gemeinschaft der Individuen. Und es geht nicht nur darum, die Freiheit zu schützen, womöglich alles tun zu können, was man möchte. Es geht auch um den Schutz des Lebens, den Schutz der Gesundheit der anderen. In einer Pandemiesituation sind Abwägungsentscheidungen zu treffen, die nach bestem Wissen und Gewissen versuchen, die verschiedenen Grundrechte in Einklang zu bringen.
"Weihnachten darf kein Superspreader-Ereignis werden"
Die SPD hält die Ausgangssperren zumindest an den Weihnachtsfeiertagen für klar unverhältnismäßig. Sind Sie sicher, dass Gerichte die Verhältnismäßigkeit in diesem Fall nicht anders interpretieren?
Der Volksmund formuliert ja gerne: Vor Gericht und auf hoher See… Die Ausgangssperre an den Feiertagen trifft viele Familien hart, meine eigene eingeschlossen. Aber es gibt gute Argumente auch dafür, wenn man tiefer darüber nachdenkt. Es geht darum, zu verhindern, dass Weihnachten zu einem Superspreader-Ereignis wird. Aus Studentenzeiten und von Freunden weiß ich, dass viele gerade jüngere Menschen am Heiligen Abend nach der Familienfeier zu einer weiteren Weihnachtsfete gehen. Mit der Ausgangssperre an den Weihnachtsfeiertagen soll diese "zweite Feier" am Abend vermieden werden. Ohne Ausgangssperre ist eine Kontrolle an den Feiertagen kaum möglich, denn jeder, der nach 21 Uhr draußen angetroffen wird, würde behaupten können, er ist auf dem Weg nach Hause.

Werden hier die Grundrechte auf Leben und Gesundheit der vulnerablen, also besonders gefährdeten Gruppen überbewertet? Gäbe es nicht Schutzkonzepte, die gezielter nur diese schützen?
Viele Kliniken Bayerns melden zur Zeit, dass sie die Belastungsgrenzen erreichen. Die Opferzahlen und Infektionszahlen sprechen eine deutliche Sprache. Es sind auch nicht nur Senioren unter den Betroffenen, unter den Toten und auch nicht nur ältere Personen in Heimen. Das Abschotten von Vulnerablen bei einem ansonsten ungehemmten gesellschaftlichen Leben wird kaum funktionieren. Jedes Menschenleben hat seinen unnachahmlichen Wert. Nach unserem Verständnis ist der Schutz dieses Lebens und der Gesundheit ein zentrales Ziel und Zweck unseres Staates.
Mit diesen Argumenten könnte man auch den Straßenverkehr verbieten. 2019 sind im Straßenverkehr in Deutschland mehr als 3000 Menschen ums Leben gekommen. Das ist doch auch eine Größe. Oder die Toten durch Alkoholmissbrauch und Tabakkonsum...
Das ist so nicht richtig: Inzwischen haben wir fast 1.000 Pandemietote an einem Tag. Die Intensivstationen laufen voll. Der Vergleich mit dem Straßenverkehr funktioniert nicht. Und bei Alkoholmissbrauch und Tabakkonsum gefährden die Menschen vor allem sich selbst, bei Corona gefährdet das eigene Verhalten vor allem andere. Das ist auch bei der Grundrechtsabwägung relevant.
Sie haben gepostet, man müsse alles dafür tun, um eine Triagesituation zu vermeiden und sich auf den Fall einer Trierer Amtsrichterin bezogen. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Vor dem Bundesverfassungsgericht klagt derzeit eine Amtsrichterin aus Trier mit einer chronischen Erkrankung. Diese Frau hat wegen ihrer chronischen Vorerkrankung im Falle einer Infektion mit Corona eine schlechte Prognose für eine Genesung. Sie befürchtet, im Fall überfüllter Intensivstationen zurückstehen zu müssen. Die Richterin will, dass Regeln zur Triage bei überfüllten Intensivstationen nicht von medizinischen Fachgesellschaften, sondern von der Legislative entschieden werden. Ganz ehrlich: Ich verstehe das, auch verfassungsrechtlich. Wesentliche Entscheidungen müssen bei uns vom Parlament legitimiert werden. Aber als Abgeordneter und Politiker würde es mir davor grauen, eine solche Regel mitzuentscheiden. Und ich denke, dass es den Ärzten und Pflegern genauso geht.
"Der Papst hat die Mitternachtsmesse im Petersdom vorverlegt"
Viele Katholiken belastet die Tatsache, dass dieses Jahr die Christmette wegen der Ausgangssperre nicht stattfinden kann. Ist das mit der Religionsfreiheit zu vereinbaren?
Auch mir fällt es persönlich schwer, mir das erste Weihnachtsfest ohne späte Mette vorzustellen. Ich bin Katholik und war zum Beispiel als Lektor in der späten Mette in St. Konrad eingeteilt. Mir bedeutet persönlich das christliche Weihnachtsfest viel. Aber auch die Religionsfreiheit gilt nicht ohne Schranken. Auch hier muss der Schutz von Menschenleben, die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und das öffentliche Interesse an einem schnellen Zurückdrängen der Pandemie mit dem Interesse der Religionsfreiheit in Einklang gebracht werden. Übrigens: Auch Papst Franziskus hatte die Mitternachtsmesse im Petersdom vorverlegt, um den Regelungen in Italien zu genügen.
Viele Künstler verweisen darauf, dass während die Kirchen Gottesdienste feiern dürfen, Konzerte, Auftritte und anderes nicht möglich sind. Wird die Kunstfreiheit ganz beiseite geschoben? Ist Bayern doch kein säkularer Staat?
Auch um diesen Grundrechtsbereich muss man sich kümmern. Allerdings kann der Gesetzgeber die unterschiedlichen Grundrechtsbereiche differenziert sehen. Bei der Kunstfreiheit können auch digitale Räume genutzt werden, zum Teil ist Kunst auch ohne Publikum möglich. Die Kunst ist so vielfältig, dass sie kaum einheitlich zu fassen ist. Allerdings gehört meines Erachtens zum staatlichen Schutzauftrag, dass er zum Beispiel Auftrittsformate im Netz unterstützt, aber auch dass er die Existenz der Künstlerinnen und Künstler zu sichern hilft.
Versagen Demokratien in der Krise, wenn man sieht, dass das autoritäre China die Pandemie scheinbar völlig unter Kontrolle gebracht hat?
Ich bin überzeugt davon, dass sich unsere Demokratie gerade jetzt bewährt. Mit China möchte ich unsere Demokratie nicht verglichen wissen. Eine Diktatur hat andere Mittel in der Krise, aber eben eines nicht: Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Auf die will ich um kein Virus der Welt willen verzichten.
Sind die Corona-Toten bei uns auch ein Preis, den wir für die freiheitliche Lebensweise zahlen müssen? So wie die Erschossenen in den USA der Preis für das dortige liberale Waffenrecht sind?
Das kann ich so nicht akzeptieren. Wir können und werden in den nächsten Wochen und Monaten beweisen, dass auch eine freie Gesellschaft die Pandemie in den Griff bekommen kann, ohne dass man ein totaler Überwachungsstaat ist und die Bevölkerung mit drastischen diktatorische Maßnahmen überzieht. Ich bin da optimistisch, weil die große Mehrheit der Menschen die Einschränkungen akzeptiert. Wenn es gelingt, diese Mehrheit von der Wichtigkeit der Impfungen, auch als Akt der Solidarität gegenüber den Mitmenschen, zu überzeugen, werden wir die Pandemie besiegen.
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