Willy Brandt: Im Schloss traf er den Meisterspion

AZ-Serie: Die Geheimnisse der Nürnberger Prozesse. Markus Wolf war sein Zimmergenosse.
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DDR-Spion Günter Guillaume (rechts knieend) begleitete Bundeskanzler Willy Brandt (hier mit seiner Frau Rut) auf allen Dienstreisen und vielen privaten Ausflügen.
dpa 3 DDR-Spion Günter Guillaume (rechts knieend) begleitete Bundeskanzler Willy Brandt (hier mit seiner Frau Rut) auf allen Dienstreisen und vielen privaten Ausflügen.
Im Steiner Schloss residierten die Journalisten aus aller Welt, die den Kriegsverbrecherprozess mitverfolgten.
dpa 3 Im Steiner Schloss residierten die Journalisten aus aller Welt, die den Kriegsverbrecherprozess mitverfolgten.
DDR-Geheimdienstchef Markus Wolf war Zimmergenosse von Willy Brandt. Später stürzte Wolf ihn als Kanzler.
dpa 3 DDR-Geheimdienstchef Markus Wolf war Zimmergenosse von Willy Brandt. Später stürzte Wolf ihn als Kanzler.

AZ-Serie: Die Geheimnisse der Nürnberger Prozesse. Markus Wolf war sein Zimmergenosse.

NÜRNBERG Zum Prozess gegen die Größen des Dritten Reichs kamen im November 1945 Journalisten und Autoren aus der ganzen Welt. Manche von ihnen wie John Steinbeck („Früchte des Zorns“) oder Ernest Hemingway („Der alte Mann und das Meer“) waren schon damals berühmte Persönlichkeiten. Andere – wie Herbert Frahm oder Michael Storm – waren der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Die Wege der beiden Männer sollten sich Jahrzehnte später noch einmal kreuzen. Da war der eine Kanzler der Bundesrepublik, der andere Spionage-Chef der DDR.

Die amerikanische Militärregierung hatte kurzerhand den Familiensitz des Grafen Faber-Castell, das Schloss im Nürnberger Vorort Stein, beschlagnahmt, um die Heerscharen von Reportern unterbringen zu können. Im Nachhinein liest sich die Namensliste wie das Who’s who der Literaturgeschichte. Erich Kästner und Alfred Döblin etwa tauchen darin auf, Erika Mann und Wolfgang Hildesheimer, John dos Passos und Gregor von Rezzori.

Nicht alle von ihnen überschlugen sich im Eifer um die beste Schlagzeile, die schnellste Nachricht vom Verlauf des spektakulären Prozesses. Hemingway und Steinbeck zum Beispiel sollen vor allem das Getränkeangebot der Schloss-Bar ausgiebig genutzt und ziemlich spät aus den Betten gekommen sein. Rebecca West dagegen, britische Romanautorin, Schauspielerin und Journalistin, die damals für den Daily Telegraph schrieb, ging bei der Nachrichtenbeschaffung auf enge Tuchfühlung. Sie fing eine Affäre mit Francis Biddle an, dem amerikanischen Hauptrichter in dem Prozess. Ähnliche Ausschweifungen sind von Herbert Frahm und Michael Storm, die ein gemeinsames Zimmer im Schloss belegten, nicht überliefert. Frahm lieferte seine Berichte an ein norwegisches Blatt, Storm arbeitete für den Berliner Rundfunk.

Die Dynamik aus dieser zufälligen beruflichen Beziehung der beiden Männer entwickelte sich wenige Jahre später. Frahm, der vor den Nazis nach Norwegen geflüchtet war und erst nach dem Krieg nach Deutschland zurückkam, nahm 1949 den Namen Willy Brandt an und startete zu einer fulminanten politischen Karriere: Regierender Bürgermeister von Berlin (1957 - 1966), Bundesaußenminister (1966 – 1969) Bundesvorsitzender der SPD (1964 - 1987), Kanzler (1969 - 1974).

Etwa zur gleichen Zeit erfolgte auch bei Michael Storm eine namenstechnische Mutation. Er hieß plötzlich Markus Wolf und wurde nach der Gründung der DDR im Jahr 1949 erster Rat an der DDR-Botschaft in Moskau. Zwei Jahre später kehrte er nach Ostberlin zurück und beteiligte sich am Aufbau des Instituts für wirtschaftswissenschaftliche Forschung. Das war ein Tarnname für den Auslandsgeheimdienst, der bald in das gefürchtete Ministerium für Staatssicherheit (MfS) eingegliedert wurde. Wolf avancierte in Windeseile zum Spionagechef – und war dadurch einer der mächtigsten Männer der DDR.

Der Kalte Krieg zwischen Ost und West, der schon in den 50er Jahren eine bibbernde Frostigkeit erreichte, schürte indessen das Bedürfnis nach gegenseitiger Infiltration. Die besseren Karten in dieser Hinsicht hatte Wolf in der Hand. Er entwickelte beim Ausspionieren des Klassenfeindes eine Langzeitstrategie, die ihre Früchte mit einer gewissen Verzögerung, dafür aber mit unglaublicher Effizienz tragen sollte. Viele Jahre später prahlte Wolf einmal damit, dass er mit seinen im Bundestag platzieren Spionen leicht eine eigene Fraktion hätte bilden können.

Er platzierte den Spion im Kanzleramt

Tatsache ist, dass es der DDR-Geheimdienstchef fertig brachte, seine verdeckt arbeitenden Mitarbeiter in hochsensiblen Bereichen des Westens zu platzieren. Einer von ihnen schaffte es in das Bundesamt für Verfassungsschutz, wo er – schlimmer hätte es nicht sein können – ausgerechnet für die Bekämpfung des DDR-Geheimdienstes zuständig war.

Noch effektiver arbeitete allerdings Günter Guillaume, Markus Wolfs Vorzeigespion. Der unauffällig wirkende Brillenträger wurde persönlicher Referent von Willy Brandt, der gerade zum Kanzler aufgestiegen war. Die Enttarnung Guillaumes führte 1974 zum Sturz Brandts.

Spätestens da dürfte dem politischen Schwergewicht aufgegangen sein, dass sein ehemaliger Zimmergenosse vom Steiner Schloss der Drahtzieher von Deutschlands folgenreichster Spionage-Affäre war.

Helmut Reister

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