Wenn ein Zug mit Flüchtlingen ankommt

147 Flüchtlinge sitzen am Mittwoch in nur einem Zug.  Es ist Ausnahmezustand – ein Besuch auf dem Rosenheimer Bahnhof
von  Paul Winterer
Flüchtlinge sitzen am Bahnhof in Rosenheim und warten darauf, registriert zu werden.
Flüchtlinge sitzen am Bahnhof in Rosenheim und warten darauf, registriert zu werden.

147 Flüchtlinge sitzen  in nur einem Zug. Noch nie hat die Bundespolizei in Deutschland so viele Menschen auf einmal aufgegriffen.

Die Polizisten warten schon. Als der Eurocity 88 Verona-München im Rosenheimer Bahnhof einfährt, stehen etwa zwei Dutzend Beamte an Bahnsteig und Unterführung parat. Etliche von ihnen steigen sofort in die Waggons und holen überwiegend dunkelhäutige Flüchtlinge aus den Abteilen.

Innerhalb von 20 Minuten ist die Treppe zur Unterführung voll mit erschöpften Kindern, Frauen und Männern. Sie sitzen auf den Stufen und wissen nicht, was nun mit ihnen passieren wird. Einen Tag später steht fest, dass es sich bei der Aktion Mitte der Woche um den deutschlandweit bisher größten „Aufgriff“ – so der Polizeijargon – von Flüchtlingen handelt. 147 Asylbewerber werden bei sengender Hitze aus nur einem Zug geholt, darunter zahlreiche Schwangere. Allein 119 von ihnen stammen aus Eritrea, die anderen sind Syrer, Äthiopier, Nigerianer oder Sudanesen. Balkanflüchtlinge mit geringer Chance auf Anerkennung, für die Bayern nun eigene Aufnahmezentren mit dem Ziel der raschen Abschiebung einrichtet, sind nicht darunter.

Trotz der schwierigen Situation herrscht Ruhe am Bahnhof

ine junge Mutter stillt auf der Bahnhofstreppe sitzend inmitten all der Leute ihr Baby, ein kleines Mädel aus Afrika hält eine Puppe im Arm, ein Bub lässt sein Spielzeugauto Runden auf dem Beton drehen. Kaum ein Kind weint. Überhaupt beeindruckt die Ruhe und Unaufgeregtheit, mit der alle die schwierige Situation meistern. Weder von den Beamten noch seitens der Asylbewerber fällt auch nur ein lautes Wort.

Mit dem Bus geht es zur offiziellen Registrierungsstelle

Zwei hochschwangeren Frauen bringen Beamte Stühle, damit sie die Wartezeit am Bahnsteig wenigstens etwas bequemer zubringen können. Dennoch: Für die Polizei sind die Flüchtlinge in erster Linie illegal eingereiste Ausländer. Sie müssen behördlich registriert werden. „Sie verfügten nicht über die erforderlichen Papiere, die für die Einreise oder den Aufenthalt in der Bundesrepublik erforderlich gewesen wären“, sagt der Sprecher der Bundespolizei in Rosenheim, Rainer Scharf. Also machen die nach einer oft lebensgefährlichen Flucht ankommenden Menschen erst einmal Bekanntschaft mit der deutschen Gründlichkeit. Schon am Bahnhof werden die Asylbewerber nach verbotenen Gegenständen abgetastet.

Jeder bekommt ein Bändchen mit einer Nummer ums Handgelenk, eine Klarsichtfolie mit den vorübergehend eingezogenen Gegenständen – Halskettchen und akribisch abgezähltes Bargeld – erhält dieselbe Nummer. Dann – seit der Ankunft des Zuges ist eine knappe Stunde vergangen – werden die Flüchtlinge in Bussen zur Dienststelle in eine ehemalige Bundeswehrkaserne gebracht.

In einer zum Bettenlager umfunktionierten Turnhalle können sie sich ein wenig ausruhen, bekommen zu trinken und zu essen. Danach geht es in die „Bearbeitungsstraße“. So nennen die Beamten das Gebäude zur Registrierung der Flüchtlinge. Während am Eingang Asylbewerber eintreten, verlassen andere den Ausgang mit der „Anlaufbescheinigung“ schon wieder. Mit dem Papier können sie in die Münchner Erstaufnahmestelle weiterreisen und dort ihren Asylantrag stellen. Im Idealfall dauert die Registrierung zwei Stunden.

Registrieren heißt Durchsuchen, ärztliche Untersuchung auf ansteckende Krankheiten wie Tuberkulose, Krätze oder Keuchhusten, und es heißt erkennungsdienstliche Behandlung – Fingerabdruck und Foto. Die wenigsten der Flüchtlinge kommen mit einem Ausweis in Deutschland an. In vielen Fällen haben Schleuser sie ihnen zuvor abgenommen. „Die Leute erhalten durch die Registrierung eine Identität und können unabhängig von Schleusern ihren Asylantrag stellen“, erklärt Scharf die Prozedur. Aynom Asmelash aus Eritrea will bei der Registrierung zunächst keinen Fingerabdruck geben. Mit Engelsgeduld redet der Beamte auf den skeptisch dreinblickenden jungen Mann ein. „You are in Germany, you must do it“, sagt er. Nach einer Weile willigt der Asylbewerber ein. Am Ende der „Bearbeitungsstraße“ wartet der Dolmetscher, der den Beamten bei der Befragung der Flüchtlinge hilft, erst dann gibt es die „Anlaufbescheinigung“. Viel ist bei der Vernehmung oft nicht aus ihnen herauszubringen.

Der 37-jährige Michael – seinen Nachnamen will er nicht nennen – ist seit einem halben Jahr bei der Bundespolizei in Rosenheim und kommt regelmäßig mit Flüchtlingen zusammen. „Das Schwierigste ist, die Leute dazu zu bringen, aus dem Zug auszusteigen. Erst wenn sie sicher sind, tatsächlich in Deutschland angekommen zu sein und hier einen Asylantrag stellen zu können, ist es unkompliziert“, sagt er.

Doch bei noch so viel Bürokratie geht es in der „Bearbeitungsstraße“ zur Flüchtlingsregistrierung menschlich zu. Der zweijährige Ali aus Syrien darf sich vor der Weiterfahrt nach München aus einem Karton mit Stofftieren noch eines aussuchen. Aber er kann sich nicht entscheiden und greift sich die ganze Schachtel. Mit einem Grinsen läuft der Knirps durch den Raum. Der Beamte, der ihm den Karton gereicht hat, nickt nur. Ali darf alle Spielsachen behalten.

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