Wenn aus Tierliebe Quälerei wird

500 Vogelspinnen, 140 Katzen, 340 Hunde: In Nürnberg und ganz Bayern werden immer mehr Fälle von „Animal Hoarding“ bekannt
von  Abendzeitung

500 Vogelspinnen, 140 Katzen, 340 Hunde: In Nürnberg und ganz Bayern werden immer mehr Fälle von „Animal Hoarding“ bekannt

NÜRNBERG Das Drama begann mit vier Kätzchen. Ein Paar aus Unterfranken hatte die niedlichen Obdachlosen bei sich aufgenommen. Die Tierliebe der Eheleute sprach sich herum – und dass sie nie Nein sagten, wenn wieder jemand mit einem heimatlosen Tiger vor der Tür stand. Irgendwann stank das Haus der beiden wie ein Katzenklo, über Sofas und Betten turnten 140 Tiere. „Das war kein Menschenhaus mehr, sondern ein Katzenhaus“, erinnert sich Berthold Merkel vom Tierschutzbund an einen der krassesten Fälle von „Animal Hoarding“ in der letzten Zeit.

Merkel ist seit zweieinhalb Jahren Präsident des Landesverbandes Bayern. Seit seinem Amtsantritt, sagt er, sind im Freistaat 100 bis 150 Fälle von krankhafter Tier-Sammelei bekannt geworden.

Einige Beispiele:

Aus der Wohnung und dem Keller einer offenbar geistig verwirrten Frau in Nürnberg-Gostenhof holten Mitarbeiter des Tierheims 91 niedliche Nager ab. Die Kleintiere, meist Chinchillas, Ratten, Spring- und Wüstenmäuse fristeten dort teilweise seit über 3 Jahren ihr tristes Leben in dunklen Käfigen.

Aus einer Gostenhofer Wohnung, die voller Fäkalien war, holten Tierschützer insgesamt 13 Dackel. Die Tiere durften die Wohnung nie verlassen – die Eigentümer meinten, sie würden sonst vergiftet. Wenn der 48-jährige Halter und seine Mutter die Wohnung verließen, sperrten sie die Tiere zusammen in kleine Katzen-Boxen.

Weil die Nachbarn vom unerträglichen Gestank genug hatten, holte ein halbes Dutzend Polizei-Beamte aus einer Wohnung in Fürth elf verwahrloste Katzen, die voller Flöhe und Läuse waren, sowie einen kleinen Hund. Die Halterin behauptete weiterhin, dass die Tiere gepflegt waren.

In ihrer Zweizimmerwohnung hielten zwei Münchner Mittdreißiger 19 Dackel, zwei Katzen, zwei Boas, Pfeilgiftfrösche und 500 Vogelspinnen samt Brutapparat. Den haarigen Nachwuchs wollte das Pärchen eigentlich verkaufen. Es verlor den Überblick.

Eine 80-Jährige aus der Oberpfalz hielt zunächst sieben Ziegen. Als sie sich nicht mehr um ihre Schützlinge kümmern konnte, vermehrten sich die Tiere munter. Am Schluss meckerten 41.

Ein Oberfranke hatte sich vor 20 Jahren drei Galloway-Rinder aus Schottland mitgebracht, um die beliebte Rasse zu züchten. Allerdings überließ er die Tiere sich selbst und als er plötzlich 15 Rinder besaß, verschenkte er sie an einen Schrotthändler.

In Aschaffenburg nahm eine Rentnerin Nager auf, die niemand wollte. Sie ließ die Tiere weder kastrieren noch sterilisieren. Schließlich hoppelten und krabbelten 1400 Kaninchen, Mäuse und Meerschweinchen durch ihr Haus.

Bei Würzburg entdeckten Tierschützer 340 Hunde auf dem Grundstück eines schrulligen Einzelgängers. „In diesem Ausmaß gab es das Phänomen vorher nicht“, sagt Berthold Merkel. Doch anders als in den USA weiß man in Deutschland bislang wenig über „Tier-Messies“. Mitarbeiter der Akademie für Tierschutz in Neubiberg waren 2008 die ersten, die sich hierzulande wissenschaftlich mit ihnen befassten.

Die Experten unterscheiden vier „Hoarder-Typen“:

Den Pfleger, der anfänglich noch versucht, sich um seine Tiere zu kümmern. Allerdings vergrößert sich der Bestand explosionsartig, weil Weibchen und Männchen nicht getrennt werden.

Der Retter versteht es als seine Mission, Tiere aufzunehmen. Er glaubt, dass sie es nur bei ihm wirklich gut haben. Irgendwann kann er sie nicht mehr richtig versorgen.

Der Züchter schafft sich Tiere an, um sie für den Verkauf oder für Ausstellungen zu vermehren – und verliert den Überblick.

Der Ausbeuter hält Tiere aus narzisstischen oder eigennützigen Motiven.

Fliegt ein Fall von Animal Hoarding auf, legt das Veterinäramt zunächst einen Stichtag fest, bis zu dem sich der Sammler vom größten Teil der Tiere trennen muss. „Wenn das nicht funktioniert, droht ein Tierhaltungsverbot. Dann werden die Tiere abgeholt und ins Tierheim gebracht“, erklärt der Experte Berthold Merkel.

Doch damit ist der Spuk nicht vorbei. Die meisten Hoarder werden sofort rückfällig – die Sammelei ist einer Sucht sehr ähnlich. „Das wird immer mehr zu einem gesellschaftlichen Problem, da das oft einsame Menschen trifft. Die meinen, sie tun den Tieren etwas Gutes – und dann haben sie das nicht mehr unter Kontrolle“, sagt der Leiter des Nürnberger Tierheims, Denny Baruch. Ursachen können Zwangsstörungen, Neurosen oder Persönlichkeitsstörungen sein. Häufig eskaliert das Problem durch eine persönliche Katastrophe. Doch noch gibt es in Deutschland keinen einzigen Psychologen, der sich mit diesem Phänomen auskennt und eine Therapie anbietet. ket/mm

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