Warum zieht es Touristen so magisch an?
Füssen - Die grünen Hügel des Allgäus heben und senken sich. Alte Bäume säumen den Weg, dazwischen schimmert geheimnisvoll ein See. Im Hintergrund das düstere Alpenmassiv.
Wie ein gezackter Kristall wachsen Zinnen aus den Felsen empor, und im nächsten Moment zeichnet sich vor den Berghängen eine Stachelsilhouette von Dächern und Türmen ab. Unwirklich wie eine Opernkulisse balanciert es über dem Abgrund – Schloss Neuschwanstein.
Schloss Neuschwanstein: Zwei Chinesen spurlos verschwunden
Wenn es für Besucher aus aller Welt einen Sehnsuchtsort in Deutschland gibt, dann ist es dieser. Jedes Jahr kommen 1,5 Millionen Touristen. Mindestens die Hälfte davon reist aus dem Ausland an. Neuschwanstein steht in ihren Augen für Deutschland wie der Eiffelturm für Frankreich und die Pyramiden für Ägypten. Was aber ist es, das ausgerechnet dieses Schloss aus dem 19. Jahrhundert so anziehend macht?
Ludwig II. wollte einen Ort der Einsamkeit schaffen
Zunächst einmal ist es gar nicht so einfach, hierherzufinden. Neuschwanstein liegt gut 100 Kilometer von München entfernt. Das ist Absicht, denn sein Erbauer, König Ludwig II., suchte die Einsamkeit. Man arbeitet sich also etwa mit einer Bimmelbahn bis nach Füssen vor und kurvt dann eine Weile im Bus. Das letzte Stück muss der Besucher wandern – oder für eine Kutsche bezahlen.
Um halb neun ist der Hof bereits voller Touristen. Mehrere amerikanische Gruppen haben schon Karten. Faryn Tate kommt aus Los Angeles. „Ich bin hier, weil ich Disney-Fan bin“, sagt sie. Schlossverwalterin Katharina Schmidt (44) weiß zu erzählen, dass viele Amerikaner Probleme damit haben, Original und Kopie auseinanderzuhalten. „Sie kommen hierher und sagen: „Ach, das haben sie von Disney abgeguckt.“ Und dann sagen wir: „Nein, umgekehrt. Walt Disney war hier und hat Neuschwanstein als Vorbild genommen.“
Die größte Gruppe sind aber nicht die Amerikaner, sondern die Chinesen. Sie haben die Japaner abgelöst. „Ich bin nur für das Schloss gekommen“, sagt Jiangchuan He (16) aus Shanghai. „Das hier ist weltberühmt. Es ist für uns ein Symbol für Europa.“ In der Hochsaison, im Juli und August, werden bis zu 7000 Menschen am Tag durchgeschleust. Der Monarch wollte das Schloss für sich als Rückzugsort haben. Doch nur sechs Wochen nach seinem Ableben 1886 wanderten die ersten Besucher hindurch. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Schloss endgültig zur Tourismus-Ikone. „Jetzt haben wir so viele Besucher wie noch nie“, sagt Ines Holzmüller von der Bayerischen Schlösserverwaltung.
„Kitschig? Nein! Exotisch, extravagant, übertrieben!“
Es gibt nicht viele Räume zu besichtigen. Die Touren dauern eine knappe halbe Stunde. Dafür sind die Räume spektakulär. Die US-Touristen sind so beeindruckt, dass sie flüstern. Kein lautes Wort, kein Verstoß gegen das Fotografierverbot. Ab und zu hört man ein „Wow“.
Dieses Schauspiel wiederholt sich im Abstand von fünf Minuten – so eng ist die Taktung. Die Touristen kommen aus allen Ecken der Welt, und alle sind begeistert. Reiseleiter Gilles Chavet (54) kommt aus Paris. Findet er Neuschwanstein nicht kitschig? „Kitschig – nein! Es ist exotisch, extravagant, übertrieben. So etwas haben wir in Frankreich nicht, da ist alles klassisch streng. Das hier ist eine wilde Fantasie.“
Bobbie Zemanek (51) aus dem US-Staat New Mexico wandelt auf den Spuren deutscher Vorfahren. „Ich glaube, dieses Schloss steht in mehrfacher Hinsicht für Deutschland“, sagt sie. „Es steht für den Zauber, für das Mysteriöse. Ich denke an Grimms Märchen.“ Die einzigen, die nicht so recht ins Schwärmen geraten, sind die Deutschen. Das Traumziel liegt wohl zwangsläufig nicht vor der Haustür, es wird in die Ferne projiziert. Für Deutsche kann es das Empire State Building in New York sein oder der Taj Mahal in Indien, aber kein Schloss in Bayern.
„Der Schlüssel zum Verständnis der weltweiten Faszination ist die Sache mit dem Märchenschloss“, erklärt Verwalterin Schmidt. „Jedes Kind wächst mit einem bestimmten Bild von einem Königsschloss auf – und das ist dieses.“
Spät am Abend. Die Touristen sind fort. Flutlichtscheinwerfer hüllen das Schloss in ein silbernes Kleid. Jetzt mag das Schloss wieder so sein, wie der König es sich vorgestellt hat: den Blicken der Massen entzogen, menschenleer, unnahbar.
Andere Orte haben auch schöne Schlösser
Neuschwanstein wird von Touristen überrannt – vor allem aus dem Ausland. Doch in Bayern gibt es jede Menge andere Schlösser, die einen Besuch wert sind. Die Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen gibt fünf Tipps:
Schloss Rosenau
Einst eine mittelalterliche Burg, wurde die Anlage bei Rödental nahe Coburg Anfang des 19. Jahrhunderts zur Sommerresidenz im neogotischen Stil umgewandelt. Sehenswert: der dreischiffige Marmorsaal und die mit bunten Wanddekorationen und originalen Wiener Biedermeiermöbeln ausgestalteten Wohnräume.
Schloss Dachau
Der Renaissancebau ist im 16. Jahrhundert aus einer mittelalterlichen Burg hervorgegangen. Die prunkvolle Holzdecke im Festsaal gehört zu den bedeutendsten in Süddeutschland. Von der Schlossterrasse bietet sich ein Panoramablick auf München und die Alpen.
Königshaus am Schachen
Mehr Schlösschen als Schloss, liegt die Anlage in 1866 Metern Höhe am Fuß des Wettersteingebirges und eignet sich damit gut als Ziel für Wanderer. Sie wurde ab 1869 auf Wunsch König Ludwigs II. errichtet. Er feierte in dem Haus jährlich seinen Geburtstag.
Schloss Veitshöchheim
Das Sommerschloss aus dem 17. Jahrhundert ist bekannt für seinen Rokoko-Garten mit 300 Skulpturen. Dem Großherzog Ferdinand von Toskana gefiel das italienische Flair des Baus so sehr, dass er dort von 1806 bis 1814 seine Sommer verbrachte.
Willibaldsburg
Die Burganlage in Eichstätt wurde 1355 gegründet und in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erweitert. Unter Fürstbischof Johann Conrad von Gemmingen wurde die Anlage zur repräsentativen Residenz umgebaut. Der Bastionsgarten ist in Deutschland laut Schlösserverwaltung einmalig.