Vom Nachdenken zum Vordenken

NÜRNBERG - Hermann Glaser wird 80 Jahre alt: Einen wie ihn hat Nürnberg nicht mehr
Er spricht von „einer gewissen Melancholie, die das Alter mit sich bringt“, sieht diesen elegischen Zustand aber gern „aufgelockert durch Aktivitätsschübe“. Soll heißen: Das nächste Buch kommt bestimmt. Und wenn wieder ein Werk von oder über ihn öffentlich vorgestellt wird, befindet sich Hermann Glaser auch nach einem halben Jahrhundert publizistischer Routine „im Zustand besonderer Nervosität“. Heute feiert der ehemalige Schul- und Kulturreferent (1964-1990), dessen Bibliografie mühelos auf hundert Titel und der als fleischgewordenes Tatkraftwerk ebenso sicher auf tausend Reformen kommt, seinen 80. Geburtstag.
„Eigentlich haben Sie ja meine Biographie mit den Serien seinerzeit geschrieben“, bilanzierte der ständige Begleiter der deutschen Nachkriegsgeschichte kürzlich, ehe er sich von OB Ulrich Maly in der überfüllten Tafelhalle vorweg feiern ließ. Die AZ hatte den „Weltgeist aus Roßtal“, prägender Kulturpolitiker nicht nur daheim (und gern mit dem Hinweis, dass ihm die erste Hälfte des Wortes wichtiger sei), zum 75sten von allen Seiten beleuchtet. Erkennbar wurde das Bild eines Mannes für jede Jahreszeit, liebenswürdig und kämpferisch, innovationsfreudig und traditionsbewusst. Der Jüngling, der als Tanzclub-Vorsitzender der frühen 1950er Jahre schon diese neue Art der Bewegungsfreiheit organisatorisch formte, kam als Lehrer auf die Schiene, die er nie wieder verließ. „Vermittler“ wollte er sein, zu Einsichten führen. Ein „Vordenker“ mit sicherem Blick für Visionen wurde er.
Faszinierend ist, dass aus heutiger Sicht die Lebenswerke des Intellektuellen mit Bodenhaftung ineinander fließen. Wie der Politiker mit ungezählten Initiativen gegen alle Polemik der Konservativen für die aufgeklärte Gesellschaft eintrat, tut das der Publizist bis heute u.a. mit klugen Bildbänden über die jüngere Vergangenheit seines Landes, dem er in kritischer Zuneigung und gelegentlichem Zorn verbunden bleibt. Dass die sozial Schwachen mit dem Begriff „Hartz IV“, dem Namen eines „Wirtschaftskriminellen“, verhöhnt werden, hat er in einer AZ–Umfrage mit Empörung als prototypisch vermerkt. Da mag er seine Partei auch nicht freisprechen.
Ob Autor („Spießerideologie“, „Freuds 20. Jahrhundert“, „Spurensuche“), Kulturpolitiker (Nürnberger Gespräche, Gesamtschule, Kulturläden, aber auch Bardentreffen) oder couragierter Verteidiger der Freiheit („Komm“-Massenverhaftungen) – einen wie ihn hat Nürnberg schon lange nicht mehr. Aber ihn eben doch noch. Danke und Glückwunsch!Dieter Stoll