Verschwinden der Zeugen

Mit „Die Ermittlung“ nach den Protokollen des Auschwitz-Prozesses ist dem Nürnberger Theater in den Gängen der Nazi-Kongresshalle eine unglaublich beklemmende Produktion gelungen.
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Weiße Gestalten der Erinnerung: Stefan Lorch (li.), Thomas L. Dietz, Heimo Essl, Jochen Kuhl und Jan Ole Sroka in der Inszenierung von „Die Ermittlung“ im Inneren der Kongresshallen-Ruine.
Berny Meyer Weiße Gestalten der Erinnerung: Stefan Lorch (li.), Thomas L. Dietz, Heimo Essl, Jochen Kuhl und Jan Ole Sroka in der Inszenierung von „Die Ermittlung“ im Inneren der Kongresshallen-Ruine.

NÜRNBERG - Mit „Die Ermittlung“ nach den Protokollen des Auschwitz-Prozesses ist dem Nürnberger Theater in den Gängen der Nazi-Kongresshalle eine unglaublich beklemmende Produktion gelungen.

Es ist eine in mehrfacher Hinsicht überwältigende Aufführung, die dem Staatstheater Nürnberg im Inneren der Kongresshallen-Ruine mit „Die Ermittlung“ von Peter Weiss gelungen ist – und das konnte man keineswegs erwarten. Die strenge Verarbeitung der Protokolle vom Frankfurter Auschwitz-Prozess zum „Oratorium in 11 Gesängen“ entzieht sich jeglicher Bühnentrickserei, wurde bei der bisher einzigen Nürnberger Aufführung 1966 denn auch als Frontal-Lesung vorgeführt und wagt nun den Ausbruch aus der Doku-Zeremonie. Sehr riskant, aber klug und mutig.

Kathrin Mädlers Inszenierung, die an der Rampe (textlich von Auschwitz, spielerisch des Hallen-Eingangs) beginnt, endet nach zwei Stunden mit einer atemverschlagenden Metapher. Da hatten die fünf Gestalten, die als Projektionsfiguren aller ungeheuerlichen Original-Zitate durch verwunschene Räume des Nazi-„Kolosseums“ geleiteten, an eine Absperrung gebeten. Dort, wo sie letzte, schlimmste Erinnerungen ans KZ-Grauen aus den Prozess-Mitschriften vermittelten, verschwanden sie dahinredend allmählich in der Weite der Gänge – so verblassend im Gewölbe wie der niederschmetternde Teil der deutschen Geschichte, den man doch so gern vergessen möchte.

„Wir sind nicht die wirklichen Zeugen", stellen die fünf Schauspieler klar (sehr intensiv und konzentriert: Thomas L. Dietz, Heimo Essl, Jochen Kuhl, Stefan Lorch und Jan Ole Sroka), denn sie nehmen die wechselnden Rollen von Opfern und Tätern, von lauernden Verhörern und eiskalten Anwälten nur vertretungsweise an, formieren sich mehrfach zu alles verwischendem Stimmengewirr, scheinen immer wieder innehaltend zu horchen, ob andere Zeugen der Hölle aus dem Jenseits nicht Einspruch erheben.

Die Zuschauer werden hoch hinauf durchs Treppenhaus geführt, in langen Gängen dem Unbehaglichkeit bereitenden Druck der Imponier-Architektur ausgesetzt und in Katakomben-Nischen mit der in Worte geronnenen Perversion konfrontiert. Der Zynismus derer, die für „normal“ erklärten, dass „von allen Seiten gestorben wurde“, gerät im aufdröhnenden Herrenwitz-Gelächter und in den Momenten süffisanter Bewegungs-Regie an die Grenze des Erträglichen – und trifft doch grade da den Punkt des Unausweichlichen. Woran niemand „schuldig“ sein will, weil es „alle anderen auch getan haben“, das steht in einer Kulisse vor Augen, die der genialste Bühnenbildner nicht so erschaffen könnte.

40 Jahre nach der Uraufführung darf und soll die „Ermittlung“ mehr Theater sein als damals, weil sie so mehr Gedanken bewegt als Guido Knopps TV-Infotainment. Dass man bei der Premiere im geweißelten ersten Raum seitlich an einem Backstein ein mit Kugelschreiber hingekritzeltes Hakenkreuz finden konnte, spricht für sich. Dieter Stoll

Vorstellungen: 25.6., 1., 4., 17., 21., 24.7. - Tel. 0180-5-231-600.

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