Vatikan half vielen Nazis auf der Flucht in ein neues Leben

Dunkles Kapitel der katholischen Kirche: Sie half nach dem Zweiten Weltkrieg auch den schlimmsten Massenmördern der NS-Ära
NÜRNBERG Josef Mengele - die Inkarnation des Bösen im Dritten Reich. Der Name dieses Arztes aus dem schwäbischen Günzburg steht wie kein anderer für Selektion, für Tod, für grausame Menschenversuche, für das pervertierte System der Nazis, für den Holocaust im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Der Name Mengele ist aber auch mit einem der finstersten Kapitel der Kirchengeschichte verbunden.
Obwohl sein Name bei den Nürnberger Prozessen in Zusammenhang mit unvorstellbaren Gräueltaten immer wieder genannt wurde, musste sich Josef Mengele (geboren 1911) nie gerichtlich verantworten. Der Arzt, der sich auf medizinische Experimente mit Zwillingen spezialisiert hatte, konnte nach dem Zusammenbruch des „1.000-jährigen Reichs“ mit Hilfe der katholischen Kirche ins sichere Ausland nach Südamerika fliehen.
Die "Rattenlinie"
Hohe Würdenträger des Vatikans hatten mit ausdrücklicher Duldung von Papst Pius XII. eine Fluchtroute organisiert, die als „Rattenlinie“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Ausgestattet mit falschen Pässen und Startkapital konnten sich schwer belastete NS-Schergen ihrer Verantwortung entziehen. In diktatorischen Ländern Südamerikas, wie etwa Argentinien oder Chile, wurden sie mit offenen Armen empfangen.
Es waren beileibe keine Leichtgewichte, denen der Vatikan in Zusammenwirken mit dem Internationalen Roten Kreuz einen Neustart ermöglichte. Neben Josef Mengele nutzten die „Rattenlinie“ Verbrecher wie Holocaust-Organisator Adolf Eichmann, „Gaswagen“-Erfinder Walter Rauff, der Kommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka, Franz Stangl, der Euthanasie-Drahtzieher Gerhard Bohne, Gestapo-Chef Klaus Barbie und KZ-Kommandant Josef Schwammberger. Hunderten Männern diesen Zuschnitts gelang mit Hilfe des Vatikans der Sprung über den großen Teich.
Rudel sorgte posthum für einen Skandal
Auch Fliegerheld Hans-Ulrich Rudel, der höchstdekorierte Soldat der Wehrmacht, gehörte dazu. Er war auch nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes bekennender Nationalsozialist – und sorgte sogar posthum für einen Skandal. Als er 1982 in Dornhausen im südlichen Mittelfranken beigesetzt wurde, donnerten zwei Bundeswehr-Kampfjets im ehrerweisenden Tiefflug über das offene Grab. SS-Veteranen, die Rudel die letzte Ehre erwiesen, erhoben daraufhin ihre rechte Hand zum „Führer“-Gruß.
Während in den Nürnberger Prozessen die Siegermächte, allen voran die USA, bei der juristischen Aufarbeitung nicht müde wurden, das Credo hoher Moral zu betonen, lief hinter den Kulissen ein doppeltes Spiel. Längst hatte der US-Geheimdienst CIC von der Tatsache Wind bekommen, dass ganz oben auf der Fahndungsliste stehende Kriegsverbrecher die „Rattenlinie“ zur Flucht nutzten. Doch anstatt dem schäbigen Treiben ein Ende zu setzen, stiegen die US-Geheimdienste selbst ein.
Viele hochrangige Wissenschaftler des Hitler-Regimes gehörten der SS an. Die gefürchtete Organisation und ihre Mitglieder wurden von den Siegermächten als „verbrecherisch“ eingestuft. Das war ein Problem für die USA, die sich das Knowhow der Wissenschaftler unter den Nagel reißen wollten. Wernher von Braun zum Beispiel war der führende Mann in der Raketentechnik.
Rund 10.000 SS-Mitglieder fanden in Amerika ein neues Zuhause
Seine V2-Raketen hatten die Engländer in Angst und Schrecken versetzt, Tausende Menschen getötet, noch mehr verletzt. Ihn, seine Mitarbeiter und die ganzen Konstruktionspläne wollten die USA unbedingt haben. Trotz seiner Vorbelastung durfte er sich in Amerika niederlassen, wurde Staatsbürger – und ein Held: Hitlers „Rocket-Man“ schoss die USA auf den Mond.
Während Wernher von Braun noch auf offiziellem Weg ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten einreisen konnte, gestaltete sich das bei anderen tiefbraun verstrickten SS-Wissenschaftlern schwieriger. Sie mussten illegal geholt werden, um einen öffentlichen Aufschrei zu vermeiden. Mit Hilfe der „Rattenlinie“ war das aber kein Problem. Aus geheimen Unterlagen, die erst viel später zum Vorschein kamen, geht hervor, dass es rund 10.000 schwer belastete SS-Mitglieder waren, die in Amerika ein neues Zuhause fanden – und eine neue Arbeit. Klaus Barbie etwa, der blutrünstige Gestapo-Chef von Lyon, wurde Berater der CIA.
Helmut Reister