Umweltexperten: "Tschernobyl wurde vertuscht"

München - Am 26. April 1986 - vor exakt 35 Jahren - hat sich die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ereignet. Die Folgen sind bis heute in ganz Deutschland zu spüren. Als Reaktion auf das Atomunglück wurde in München das Umweltinstitut gegründet.
Ein Gespräch mit dessen früherer Mitarbeiterin, der Physikerin Karin Wurzbacher, und dem politischen Geschäftsführer Fabian Holzheid.
AZ: Frau Wurzbacher, 1986 ereignet sich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Beschreiben Sie uns, wie war die Stimmung damals in Bayern?
KARIN WURZBACHER: Die Auswirkungen von Tschernobyl wurden in Bayern sehr stark wahrgenommen. Hier hat sich die radioaktive Wolke abgeregnet und den Boden, die Luft und Nahrungsmittel radioaktiv verseucht. Gerade für Kinder und ältere Menschen war das sehr bedrohlich. Zuerst war gar nicht klar, was passiert war. Die Sowjetunion versuchte zunächst, das Unglück zu vertuschen, und auch in der BRD wurde die Bevölkerung im Unklaren gelassen. Erst später hat sich herausgestellt, was für eine schwerwiegende Reaktorkatastrophe sich da eigentlich ereignet hatte.

"Die Leute kamen mit Lebensmitteln - und wir haben gemessen"
Kurz nach der Katastrophe wurde das Umweltinstitut gegründet. Was haben Sie dort gemacht?
Anfangs war es wichtig, Messungen durchzuführen, um sich ein Bild über das Ausmaß der Katastrophe zu machen: Wie viel Radioaktivität war in der Luft, im Boden und in Lebensmitteln. Die Leute kamen mit Lebensmitteln zu uns und wir haben gemessen. Da gab es dann auch ganz skurrile Fälle.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel bei der Kuhmilch. Die Kühe waren während des radioaktiven Niederschlags auf der Weide und dementsprechend war auch die Milch verseucht. Es gab aber einen Bauern, der genau eine von seinen Kühen nur im Stall mit Futter aus dem Vorjahr gefüttert hatte. Diese Kuh lieferte unbelastete Milch, und die konnten Mütter mit kleinen Kindern dann bekommen.
Wie hat sich die Situation auf Ihr eigenes Leben ausgewirkt?
Mein Kind war damals vier Jahre alt. Kinder sollten in dieser Zeit möglichst wenig nach draußen gehen. Die Folge war dann ein Zimmerbrand, quasi auch eine Tschernobyl-Folge (lacht).
Am Anfang haben Sie im Umweltinstitut nur Messungen durchgeführt, bald dann aber aktiv gegen Atomkraft protestiert. Wie kam es dazu?
Nachdem das Ausmaß der radioaktiven Kontamination klar war, und wir einigermaßen gelernt hatten damit umzugehen, wurden wir politisch aktiv. Einer der ersten Proteste war zum Muttertag, wo gegen die Nutzung der Atomkraft protestiert wurde. Der Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland ist nicht nur, aber auch ein später Erfolg dieser Proteste.

Holzheid: Das Umweltinstitut führt bis heute Messungen durch
Messen Sie heute immer noch Radioaktivität?
Ja, Messungen führt das Umweltinstitut immer noch durch. Nach dem Reaktorunglück in Fukushima zum Beispiel haben wir ganz viele japanische Autos getestet. Auch wenn eine Kontamination da extrem unwahrscheinlich ist, brauchten die Leute damals die Gewissheit. Aber auch Tschernobyl ist noch nicht gegessen: Es gibt auch heute noch durch den Fallout belastete Lebensmittel in Bayern wie Wildschweinfleisch oder Pilze.

Oder es werden belastete Pilze aus Osteuropa eingeführt. Wir konnten zum Beispiel einmal Pilze identifizieren, die offensichtlich aus der Nähe von Tschernobyl kamen und illegal importiert wurden. Sie waren weit über dem zulässigen Grenzwert radioaktiv belastet. Ein österreichischer Händler hatte sie in Bayern vertrieben. Es gab ein gerichtliches Nachspiel.
Herr Holzheid, das Thema Atomkraft ist also auch noch heute wichtig.
FABIAN HOLZHEID: Ja, das begleitet uns bis heute. Der Forschungsreaktor in Garching nutzt zum Beispiel immer noch hoch angereichertes Uran, welches atomwaffenfähig ist. Laut Betriebsgenehmigung hätte der Reaktor schon Ende 2010 auf Brennstoff mit geringerer Anreicherung umgerüstet sein müssen, passiert ist aber nichts. Im Endeffekt wird der Reaktor bereits seit 2011 illegal betrieben, weshalb wir gemeinsam mit dem Bund Naturschutz Klage eingereicht haben. Aber wir haben inzwischen natürlich auch jede Menge andere Projekte.

Zum Beispiel?
Das Umweltinstitut hat sich schon sehr früh, Ende der 80er Jahre, gegen Gentechnik in der Landwirtschaft ausgesprochen. Mit Erfolg: Deutschland ist heute gentechnikfrei, Produkte müssen in Europa gekennzeichnet werden. Doch nun gibt es erste Stimmen in der EU, die die Gentechnikrichtlinie aufweichen und bestimmte Verfahren aus der Regulierung heraus definieren wollen.
In Italien wird das Umweltinstitut gerade verklagt. Da geht es aber nicht um Gentechnik.
Genau. Wir engagieren uns auch gegen den Einsatz von Pestiziden, die ein maßgeblicher Grund für das Insektensterben sind. Auch hier messen wir. Im letzten Jahr haben wir eine aufsehenerregende Studie veröffentlicht, die belegt, dass unsere Luft mit Pestiziden belastet ist. Sogar auf der Spitze des Brockens im Nationalpark Harz konnten wir zwölf Pestizide nachweisen. In Südtirol werden wir jetzt auf Schadensersatz verklagt, weil wir dort den hohen Pestizideinsatz in den Südtiroler Apfelplantagen öffentlich kritisiert haben. Auch hier hatten wir zuvor eine Belastung der Luft nachweisen können.

Wie finanziert das Umweltinstitut so etwas?
Aus dem kleinen Häuflein von Freiwilligen ist eine professionelle Organisation mit 23 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geworden. Wir finanzieren uns fast ausschließlich über Kleinspenden und unsere rund 11.500 Fördermitglieder. Geld aus der Industrie nehmen wir natürlich nicht. Das ist wirklich etwas Besonderes und zeigt, wie relevant unsere Themen auch heute noch sind.