Überraschungen auf Herrenchiemsee: Dom-Ruine und Brauerei mit Graffiti

Stiftskirche, Kathedrale, Brauerei und Lost Place: Der Inseldom auf der Insel Herrenchiemsee ist erstmals begehbar – und bietet Überraschungen.
von  Thomas Müller
Das Prunkstück des "Inseldoms": freier Blick vom obersten Zwischenboden der ehemaligen Brauerei auf das barocke Tonnengewölbe.
Das Prunkstück des "Inseldoms": freier Blick vom obersten Zwischenboden der ehemaligen Brauerei auf das barocke Tonnengewölbe. © Th. Müller

Herrenchiemsee - "Lost Places" erfreuen sich im Selfie-Zeitalter ja besonderer Beliebtheit. Diese zwar nicht verlorenen, wie das Pseudoenglisch vermuten ließe, so doch vergessenen Orte, von den Zeitläufen überrannt, einfach zufällig stehengelassenen Bauten mit einem besonders morbiden oder fancy Touch, um im Jargon zu bleiben.

Inseldom: aus dem Dornröschenschlaf erwacht

Solch ein Bau, außen sauber verputzt, steht auf der Insel Herrenchiemsee, unweit vom Dampfersteg und Schlosshotel. Er ist in Staatsbesitz und dämmerte, offiziell unzugänglich, seit 1914 vor sich hin. Dieser Dornröschenschlaf ist vorbei. Die "Inseldom" genannte ehemalige Kathedrale und Stiftskirche der Chiemseebischöfe ist wachgeküsst - und kann nun erstmalig besichtigt werden. 

Jetzt sind gefahrlose Führungen möglich

Gut zwei Jahre lang hat die Schlösserverwaltung den seit 1914 mehr oder minder dem Verfall preisgegebenen, aber imposant-ruinösen Kirchenbau gesichert und mit neuen Treppen, Laufgittern, Info-Tafeln, einem Aufzug und einer dezenten Beleuchtung so saniert, dass jetzt erstmals gefahrlos Führungen angeboten werden können.

Die AZ hat sich mit dem ersten Schifferl am Samstag auf den Weg gemacht - und war bei der ersten Führung dabei. Was einen erwartet? Ein absolutes Unikum: Lost Place, Ruine, Kirche und Brauerei in einem - dazu barocke Fresken und Gemälde sowie historische Graffiti aus der Zeit des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Wie gesagt, dieser bizarre Mix dürfte einmalig sein.

Mystisches Licht im ramponierten Gewölbe

Durch eine Holztüre an der Westseite geht's rein. Das Licht ist mystisch, die Luft riecht ein wenig muffig. Auf einem Gitter stehend, lässt man ein arg ramponiertes Gewölbe auf sich wirken.

Unter dem Laufgitter die rohbauartigen Reste der archäologischen Grabungen mit uralten Fundamenten und Säulen-Resten, die in dezentes Licht getaucht sind. Auf Infotafeln ist die Baugeschichte seit 629 dokumentiert mit allen Bauperioden und Umbauten des barocken Neubaus (1676-1678) der ehemaligen Kirche.

Überreste einer alten Brauerei

Kirche? Brauerei! Reste der alten Sudstätte, in die sich der Inseldom nach der Säkularisation 1803 verwandelte, sind überall zu sehen. Wie etwa ein Wasserstandsanzeiger und Wasserzulaufrohr fürs Brauwasser (der Kessel stand einst außen), das angerußte Kaminrest der Malzdarre, die Malztenne im Keller, den Schacht für den Malzaufzug, durch den man vom Keller aus bis ganz nach oben ins barocke Gewölbe blickt, unzählige Zwischendecken und Kammerl, auch das Zimmer des Braumeisters.

Üppiger Barock-Stuck aus dem 17. Jahrhundert

Es ist ein wahrer Fuchsbau, durch den sich die Führung zieht. Höhepunkt, im wahrsten Sinne, dann der Aufstieg rauf zum letzten Brauerei-Zwischenboden auf Höhe der ehemaligen Empore und dem 15 Meter darüber aufragenden Tonnengewölbe, auf dem sich wundersamerweise üppiger Barock-Stuck und -Gemälde aus dem 17. Jahrhundert erhalten haben. Freilich arg angegriffen mit herb-ruinösem Charme.

Einmalige Zeichnungen aus Kriegsjahren

Einmalig, nicht nur als Kontrast zur Barock-Ruine, die handschriftlichen Hinterlassenschaften und Zeichnungen auf den Wänden. Zum einen von Gästen aus dem nebenan liegenden Schlosshotel, die sich hier eher illegal Zutritt verschafft hatten - wie auch aus den Kriegsjahren 1940/41/42: Während ihrer Zeit bei der Kinderlandverschickung auf der Insel haben sich Kinder hier in Süterlin ihrer Not und Trauer Luft gemacht.

Das liest sich dann beispielsweise so: "Frieda Schödl - war im Sommer 1941 hier auf der einsamen Insel und sehnte sich nach Freiheit." Und Leni, Ursula und Kathi schreiben im Winter 1941: "Das Frühjahr ist bald da und die drei Mädel verschwinden ,Juhe' Auf Wiedersehen im Massengrab." Vergrößerungen und "Übersetzungen" der Graffiti auf Infotafeln sind hier sehr hilfreich.

Das Inventar der Brauerei wurde verschleudert

Von der Ausstattung der einstigen Brauerei ist übrigens, von den brachialen baulichen Eingriffen in die barocke Raumschale freilich mal abgesehen, überhaupt nichts mehr zu sehen. 1914 war sie, im königlich-bayerischen Besitz, wegen Unrentabilität aufgegeben worden.

Das gesamte Inventar wurde verschleudert - wie schon 100 Jahre zuvor fast die gesamte Inneneinrichtung der Kirche. Weshalb der Inseldom auch komplett leer ist.

Faszinierender Lost Place in Staatsbesitz

Enttäuschend? Nein, völlig faszinierend, dieser Lost Place in Staatsbesitz. Ein wohliger Kontrast zum spätfeudalen Prunk im Kini-Schloss nebenan - und eine echte Empfehlung. Erst im kommenden Frühjahr kann der Inseldom regulär besichtigt werden. Derzeit laufen allerdings Sonderführungen: an den beiden Wochenenden in den Herbstferien (30./31.10. und 6./7.11.) sowie an Allerheiligen, 1.11., jeweils um 11 und 14 Uhr. Maximal zehn Teilnehmer sind erlaubt.


Anmeldung: 8051 / 6887-900, Mail: info.herrenchiemsee@bsv.bayern.de. Der Treffpunkt ist an der Kasse des Museums im Augustiner-Chorherrenstift. Festes Schuhwerk ist erforderlich. Die Führung kostet 5 Euro (ermäßigt 4 Euro). Es gilt Corona-bedingt die 3G-Regel.

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