Todesangst im ICE: „Ich dachte, jetzt ist es vorbei!“

„Dieser 26. April ist wie ein zweiter Geburtstag.“ Der Nürnberger Nico Gelev (32) war einer der 135 Passagiere im Unglücks-Zug. Wie er und andere Mitreisende den Crash erlebt haben
Fünf Schafe haben überlebt. Jetzt glotzen sie Petra Birkenfeld im dunklen Tunnel an. Der Rest ihrer Herde ist tot, blutiges Fleisch liegt auf dem Schotter. Der Anblick hinterlässt bei Petra Birkenfeld eine Ahnung, was auch ihr hätte passieren können: „Es ist ein Wunder, dass wir leben“, sagt die Münchnerin.
Am Samstagabend um 21.05 Uhr entgleist der ICE 885 Hamburg-Nürnberg-München bei über 200 km/h im 10779 Meter langen Landrückentunnel bei Mittelkalbach zwischen Fulda und Würzburg. 500 Meter nach der Einfahrt in den längsten Tunnel Deutschlands rast der Zug in eine Schafherde. „Die Fahrgäste hatten unglaubliches Glück, dass es in einemTunnel passiert ist“, sagt GBundespolizeisprecher Reza Ahmari. „Die Wände haben Schlimmeres verhindert.“ Auf freier Strecke hätten sich die entgleisten Wagen quergestellt und verkeilt – wie in Eschede 1998. „Dann hätte es Tote gegeben.“
Vier von 135 Fahrgästen kommen mit Platzwunden und Knochenbrüchen ins Krankenhaus, 15 werden leicht verletzt, die meisten aus Bayern. 20 Schafe werden im Tunnel getötet. Wie sie dorthin kamen? Der Schäfer Norbert W. behauptet, sie seien dorthin getrieben worden. „Schafe laufen nicht einfach auf Gleise.“ Bereits vor zwei Tagen habe es Probleme gegeben, weil Unbekannte seine Hunde von der Weide gejagt hätten.
Der Unfall: Wie in einem Film
Kurz vor dem Knall sitzt die Radiologin Petra Birkenfeld in der Mitte eines Waggons der 2. Klasse. Es ist ruhig. Sie liest Zeitung, andere dösen. Dann gerät die Welt aus den Fugen. Der Zug springt aus den Gleisen und pflügt durchs Schotterbett. „Wir wurden richtig durchgeschleudert“, erzählt Birkenfeld. Der Zug rutscht einen Kilometer weiter und zermahlt das Geröll unter sich. Petra Birkenfeld krallt sich an ihren Armlehnen fest. „Draußen flogen Metallteile herum. Scheiben zerbarsten. Dann flog eine Tasche an mir vorbei. Und ein Schuh.“
Ein paar Waggons weiter saß Nico Gelev. „Alle möglichen Sachen flogen durcheinander, es war wie in einem schlechten Hollywood-Film. Ich dachte, jetzt ist es vorbei“, sagt der 32-jährige Nürnberger Sat1-Mitarbeiter. Nach 60 Sekunden und 1200 Metern bleibt der Zug stehen. „Das Schlimmste war, durch den Qualm und Staub zu laufen, und überall lagen tote Tiere.“
Die Schaffner führen die Fahrgäste gegen die Fahrtrichtung zurück. „ Alle waren sehr diszipliniert“, sagt Birkenfeld. „Überall lagen Zugteile, Steine – und Tierknochen. Die Gleise waren gerissen. Darauf lagen tote Schafe.“
Die Passagiere werden mit Bussen ins Bürgerhaus Mittelkalbach gebracht. Dort versorgt sie Bürgermeister Dag Wehner mit Tee, Kaffee oder Wasser. „Es war relativ ruhig, die Leute haben das gut weggesteckt“, sagt er. „Viele fragten sich, ob sie ihren Flieger in München kriegen.“ Um 0.30 Uhr, vier Stunden nach dem Crash, werden die unverletzten Zuggäste nach Fulda gebracht. Der Tunnel ist noch gesperrt. Laut Bahn wird es mehrere Tage dauern, bis die Strecke wieder frei ist, die Züge werden umgeleitet.
Um 5.45 Uhr kommt Petra Birkenfeld endlich nach Hause. Hundemüde, aber glücklich: „Ich habe ein zweites Leben geschenkt bekommen“, sagt sie. So denkt auch Nico Gelev. Jeder Knochen tut ihm weh, sein Körper ist voller Prellungen. Aber er lebt. „Wir hatten verdammtes Glück“, sagt er. „Dieser 26. April ist wie ein zweiter Geburtstag.“
tg/zo/sw