Thomas Manns "apokalyptische Tiere" sind wieder da

Es kommt nicht oft vor, dass zwei Friedhofsstatuen zu literarischem Weltruhm kommen. Die Sphinx-Figuren vom Münchner Nordfriedhof aber haben genau das erreicht, zudem sind sie quasi im Nebel der Geschichte verschwunden. Aus dem erstehen sie jetzt wieder auf.
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Die Steinmetzgesellen Maximilian Behrendt (l) und Benedikt Rösch vermessen die Vorlage der Sphinx-Figur. Foto: Sina Schuldt/Archivbild
dpa Die Steinmetzgesellen Maximilian Behrendt (l) und Benedikt Rösch vermessen die Vorlage der Sphinx-Figur. Foto: Sina Schuldt/Archivbild

München (dpa/lby) - Sie hat lange gewartet. "Es is ja scho a Ewigkeit her", sagt die alte Dame. Sie wohnt in der Nähe, und sie hat sie noch gesehen, als sie das Eingangsportal des Münchner Nordfriedhofs einrahmten: stumm, mahnend, mystisch. "Apokalyptische Tiere" hat Thomas Mann sie in "Der Tod in Venedig" genannt: zwei Sphinxe mit Hahnenköpfen. "Sehet zu", "Wachet und betet" - so lauteten ihre Inschriften.

Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis nach dem Zweiten Weltkrieg standen die zwei von Hans Grässel geschaffenen Granitfiguren vor der Aussegnungshalle. Dann verschwanden sie - so die heute offizielle Formulierung. Ob zerstört, verkauft, heimlich abgebaut - nichts Genaues weiß man nicht. Und nun kehrt zunächst eine Sphinx zurück: Zum 200. Bestehen der kommunalen Friedhofsordnung schenkt die Steinmetz- und Steinbildhauerinnung München und Oberbayern der Stadt eine Replik. Am Donnerstag soll sie bei einem Festakt enthüllt werden. Im Herbst entscheidet der Stadtrat, ob auch für die zweite Sphinx Haushaltsmittel im Jahr 2020 bewilligt werden.

In einer Bauhütte am Friedhof arbeiten die Steinmetzmeister Barbara Oppenrieder und Wolfgang Gottschalk mit einem Team, alle in T-Shirts mit der Aufschrift "Projekt Sphinx 2019". "Es gibt wirkliche Fans, die das außerordentlich toll finden, dass die Sphinx wiederkehrt", sagt Gottschalk. Von einem "Belagerungszustand interessierter Menschen", Anwohner, Touristen und Kunstinteressierte, spricht Oppenrieder.

Sie hat eine besondere Beziehung zu den Sphinxen: Schon ihr Vater forschte nach deren Verbleib, sie wuchs gegenüber dem Nordfriedhof auf. Als Ehre empfindet sie es, das an die Begrenztheit des Daseins erinnernde Wesen aus Auerkalkstein erstehen zu lassen. "Es ist das Projekt meines Lebens", sagt auch ihr Partner und Kollege Gottschalk. "Wir genießen das in allen Zügen."

Dabei ist die Arbeit ungewöhnlich schwer: Mit einem einzigen Foto von 1905 aus ungünstiger Perspektive begannen die Steinmetze ihre Arbeit, erst nach einem Dreivierteljahr bekamen sie eine Frontansicht zu Gesicht. Sie schufen ein etwa 1,75 Meter hohes Modell, nach dem die Replik nun mit einem Team von etwa 20 Menschen, darunter Meisterschüler, entsteht. In mühsamer punktueller Arbeit werden die Proportionen auf den Kalkstein übertragen.

Gottschalk sieht die Bauhütte auch als Chance, für sein Gewerk zu werben, das große Nachwuchssorgen hat. "Unser wunderbarer Beruf ist nicht mehr zeitgemäß", bedauert er. Und so schaffen die Steinmetze für den Nordfriedhof ein Werk, das an die Vergänglichkeit gemahnt - und für die Ewigkeit gedacht ist.

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