Spanische Grippe: Tödlicher als der Krieg

München - Nach seriösen Schätzungen sind im Ersten Weltkrieg zehn bis 20 Millionen (im Zweiten Weltkrieg 55 Millionen) Menschen infolge militärischer Einwirkung ums Leben gekommen.
Aber: Mindestens 50 Millionen Todesopfer hinterließ zwischen 1918 und 1920 eine Pandemie, die der englische Infektionsforscher Jeremy Farrar mit dem möglichen Verlauf der gegenwärtigen Coronavirus-Epidemie vergleicht und Medizinhistoriker als größte demografische Katastrophe der Menschheitsgeschichte bezeichnen: die "Spanische Grippe".
In Bayern hat sie weit über 30.000 Menschen das Leben gekostet. Ihre Geschichte ist dramatisch und erst in letzter Zeit aufgehellt worden. Das Unheil nahte, wie üblicherweise das schlechte Wetter, von Westen. Von dort, wo sich die Kriegsfurie noch einmal aufbäumt, während die Feldlazarette überfüllt sind mit grippekranken Soldaten aller Armeen.

1918: Die Spanische Grippe erreicht Bayern
Im Juni 1918 – an der französischen Front ist gerade die letzte Großoffensive des deutschen Durchhalte-Generals Erich Ludendorff gegen frische amerikanische Truppen gescheitert – brechen in Nürnberg mehrere Zivilisten auf der Straße zusammen. Andere haben Schüttelfrost, sie husten, niesen, spucken Blut. "Es handelt sich nicht um eine neue Krankheit, sondern um die wohlbekannte echte Influenza", meldet am 28. Juni der "Fränkische Kurier".
Die Wahrheit finden Forscher erst später heraus: Es handelt sich um ein neues, mutiertes, hochgefährliches Virus. Die "Spanische Grippe" hat Bayern erreicht. Sie grassiert bereits weltweit. Ihre amtliche Bezeichnung hat sie erhalten, weil die ersten Fälle in Europa aus Spanien gemeldet wurden. Leute auf "Booten" hätten sie eingeschleppt, wird gemunkelt.
Die Wahrheit hat nichts mit "Boat people" zu tun, und mit Spanien nur insoweit, als dieses Land, dessen eigener König an einer Influenza litt, am Weltkrieg nicht teilnahm und daher keine Pressezensur hatte, während beunruhigende Meldungen über mysteriöse Erkrankungen anderswo zunächst unterdrückt wurden.
Tatsächlich kommt die Epidemie aus einem fernen Land, aus Kansas in den USA. Alexander Jameson heißt der Farmersohn, der das noch unbekannte Virus, das wahrscheinlich von Wasservögeln übertragen wurde, als Rekrut mit einem großen Truppentransporter nach Europa bringt. "Patient Zero" überlebt, innerhalb einer Woche aber krepieren 38 seiner Kameraden.

Spanische Grippe: Modernstes Krankenhaus der Welt steht in Schwabing
In den Schützengräben fordert das fremdartige Virus bald zehnmal mehr Opfer als der Krieg. Auch Zivilisten sterben. Überall. Junge und Alte, mehr Frauen als Männer. Eine rätselhafte, unheilbare Lungenentzündung befällt massenhaft ärmere Leute in dichtbesiedelten Stadtteilen. Doch nicht nur sie. Der US-Präsident und spätere Friedensstifter Woodrow Wilson, der letzte Kriegskanzler Prinz Max von Baden und Heerführer Paul von Hindenburg zeigen ebenfalls Symptome einer Infektion.
Erkrankt sind zudem die Dichter Ezra Pound, Franz Kafka und Guillaume Apollinaire. Letzterer stirbt – genau wie Egon Schiele. Der österreichische Expressionist wird nur 28 Jahre alt. Als die Spanische Grippe Mitte 1918 im Noch-Königreich Bayern ankommt, trifft sie auf ausgehungerte, erschöpfte Menschen ohne Widerstandskraft.
Auffallend ist, dass sie einhergeht mit einer ungewohnten Klimaverschiebung. "Sonnenglut", notiert Thomas Mann in München. Die im letzten Kriegsjahr auf 603.000 Einwohner geschrumpfte Hauptstadt ist durchaus vorbereitet, als die neue Grippe am 1. November den ersten Bürger auch auf der Straße niederwirft. 1836 hat die Cholera 2.892 Münchner hinweggerafft, 1874 noch einmal 1.862.
Seither gilt das Gesundheitswesen hier als vorbildlich – dank Hygienikern wie Max Pettenkofer. Das städtische Krankenhaus München-Schwabing, 1907 erbaut, wird sogar als modernstes Krankenhaus der Welt gerühmt. Hier werden die ersten und meisten der Infizierten versorgt.

Spanische Grippe: Kliniken der bayerischen Städte füllen sich schnell
Oberarzt Professor Siegfried Oberndorfer befasst sich auch mit den möglichen Ursachen der neuartigen Krankheit, die inzwischen als Pandemie, als Weltseuche, klassifiziert ist: Zwischen Mensch, Schwein und einigen Vogelarten bestehe nicht mehr nur auf dem Land, sondern auch in manchen Städten ein reger Austausch des Erregers, nimmt der namhafte Pathologe spätere Befunde vorweg.
Mitte Oktober 1918 bricht eine neue Welle über die Welt herein. Die Fälle häufen sich und verschlimmern sich. Das Virus muss mutiert sein. Die Gesundheitsämter sind alarmiert. In München richtet man sich nun auf 25.000 bis 30.000 Neu-Erkrankungen ein und rechnet mit einer Todesrate von bis zu sieben Prozent.
Die Kliniken der bayerischen Städte füllen sich unerwartet rasch. Sanitätsautos rasen durch die Straßen. In einigen Städten bricht der Verkehr zusammen, zumal auch die Benzinvorräte zu Ende gehen. Weil in Augsburg die Ärzte nicht mehr zu den Krankenbetten kommen, stellt ihnen die Stadt Gutscheine für die 50 noch vorhandenen Kraftdroschken aus.
Spanische Grippe: Friedhöfe müssen geschlossen werden
In München erkranken etliche Trambahnschaffnerinnen, die viel Publikumskontakt hatten, schnell müssen Aushilfskräfte geschult werden. Unter dem 18. Oktober heißt es in der Stadtchronik: "Das öffentliche Leben kommt fast zum Erliegen."
Im November greift sogar das bayerische Kriegsministerium ein: Soldaten werden als Pfleger in Lazarette abkommandiert. Friedhöfe müssen wegen des Andrangs geschlossen werden und der Münchner Magistrat bewilligt 4.200 Mark "zur Anschaffung weiterer Leichenfrauen".
Im Landtag fragt das Zentrum, wie die Staatsregierung diese "furchtbare Gefahr" angesichts des Ärztemangels bekämpfen wolle. "Apokalyptische Reiter" erscheinen dem einflussreichen Historiker, Publizisten und frühen Nationalsozialisten Karl Alexander von Müller – auch ihn hat die Grippe zeitweise im Griff. Allmählich aber wird das ausgelaugte bayerische Volk nicht nur des seit vier Jahren tobenden Krieges müde, sondern auch der Krankheit.
Jedenfalls kommentieren die "Münchner Neuesten Nachrichten" am 3. Januar 1919: "Es ist seltsam, wie gelassen die Welt die furchtbare Influenza der letzten Monate hingenommen hat und wie wenig Aufsehen auch die schlimmsten Sensationsblätter von ihr gemacht haben."
Spanische Grippe: München kommt recht glimpflich davon
Verglichen mit dem übrigen Land, ist München ja auch verhältnismäßig glimpflich davongekommen: Insgesamt – so besagt jedenfalls die Stadtchronik – sollen "nur" 2.860 Bürger an der Spanischen Grippe erkrankt und 646 daran gestorben sein, davon 176 allein in der ersten Woche des politisch turbulenten Monats November 1918.
Zur Jahreswende wird Bayern, inzwischen Freistaat geworden, von einer letzten, weniger gefährlichen Welle heimgesucht. Allmählich flaut auch sie ab. Womit nach einem guten halben Jahr die bisher schlimmste Virusepidemie Bayerns endet – ebenso wie Krieg und Revolution, wie Hunger und Anarchie.
Doch es sollte nicht die letzte große Grippe-Epidemie sein. 1957 fielen weltweit ein bis zwei Millionen Menschen der Asiatischen Grippe zum Opfer und 1968 bis zu zwei Millionen der Hongkong-Grippe.
"Niemand kann sich daran ernsthaft erinnern, wir hatten damals eine andere Medizin, eine andere Gesellschaft", sagte der Berliner Virologe Christian Drosten dieser Tage im ZDF. Und über die aktuelle asiatische Grippe meinte er sehr bestimmt: "Es wird schlimm werden."
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Der Artikel basiert unter anderem auf dem Buch "Schwarze Tage – Das Münchner Katastrophenbuch" von Karl Stankiewitz.