Sozialministerin Ulrike Scharf im Interview: "Bayern hilft mit offenem Herzen"

München - AZ-Interview mit Ulrike Scharf: Die CSU-Politikerin (54) war von 2014 bis 2018 Bayerns Umwelt-Ressortchefin und ist seit Kurzem als Sozial-und Familienministerin zurück im Kabinett. Außerdem ist sie Landesvorsitzende der Frauen-Union.
AZ: Frau Scharf, 2018 sind Sie recht unsanft Ihres Postens als Umweltministerin enthoben worden. Wie ging es Ihnen, als die Staatskanzlei nun anrief, um Sie zur Arbeits- und Sozialministerin zu machen?
ULRIKE SCHARF: Ich war überrascht. Aber ich habe mich gefreut und gerne zugesagt. Als Staatsministerin für Bayern arbeiten zu dürfen - das ist eine hohe Ehre.
Ulrike Scharf: "Das erste Opfer des Krieges ist immer die Menschlichkeit"
Wurden Sie ausgewählt, weil Sie eine Frau sind?
Ich glaube, dass ich mich durchaus qualifiziert habe. Ich kann auch mit Rückblick auf das Umweltministerium nicht sagen, dass es da ein fachliches Problem gab. Ganz im Gegenteil. Ich habe viele Themen auf die Tagesordnung gebracht, die noch lange nicht reif waren, Stichworte: Klimaschutzgesetz oder Dritter Nationalpark. Ich glaube nicht, dass es in meinem Fall damit zu tun hat, dass ich eine Frau bin. Aber es ist auch kein Geheimnis, dass der Ministerpräsident sich fest vorgenommen hat, ein gutes Verhältnis von Frauen und Männern im Kabinett zu schaffen. Das ist richtig - und diese Aufgabe nehme ich auch selbst in meiner Funktion als Staatsministerin an.
Direkt an Ihrem ersten Arbeitstag brach der Krieg in der Ukraine aus. Wie war das?
Erschütternd. Das erste Opfer des Krieges ist immer die Menschlichkeit. Es sind die Frauen und Kinder, die leiden, Familien, die getrennt werden und diese schlimmen Fluchtwege nehmen müssen. Aber da muss man sich konzentrieren und sich fragen: Wo können wir als Sozialministerium helfen und mit wem müssen wir uns vernetzen?
"Am Hilfetelefon fragen sie nach Sprachkursen und Arbeit"
Wie lautete die Antwort?
Ich habe gleich am ersten Tag die bayerischen Wohlfahrtsverbände gebeten, in einer Videoschalte zusammenzukommen. Mein Vorschlag war, ein Hilfetelefon einzurichten. Und das hat sich im Nachhinein wirklich als Erfolg erwiesen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben schon fast 5.500 Anrufe angenommen. Es ist ganz wichtig, eine erste Anlaufstelle zu haben. Und zwar nicht nur eine Homepage, sondern eine Person an der anderen Seite der Leitung, die auch Ukrainisch oder Russisch spricht.
Was bewegt die Anrufer?
Da ist alles dabei. Angefangen bei denen, die hier leben und ihre geflüchteten Angehörigen nicht mehr erreichen können, bis hin zu Ehrenamtlichen, die sagen: Ich habe eine Wohnung oder andere Unterkunft, ich möchte Hilfstransporte begleiten oder Ähnliches. Und dann haben wir auch ankommende Flüchtlinge, die in ihrer Landessprache die ersten Sorgen und Nöte äußern können. Viele fragen direkt nach Sprachkursen und danach, wie sie in den Arbeitsmarkt eintreten können.
"Die Wirtschaft schaut mit großen Erwartungen auf die Menschen, die zu uns kommen"
Laut EU haben ukrainische Geflüchtete gleich Zugang zum Arbeitsmarkt. Einige Pflegeheimbetreiber dürften sich nun die Hände reiben, mancher sieht gar den Pflegenotstand gelöst. Ist es wirklich so einfach?
So einfach ist es tatsächlich nicht. Der Bedarf an Fachkräften im Pflegebereich und in den Gesundheitsberufen ist riesengroß. Natürlich schaut die Wirtschaft mit großen Erwartungen auf die Menschen, die zu uns kommen. Aber die erste Hürde, die genommen werden muss, ist die Sprache. Da spielt es fast keine Rolle, welchen Beruf man antritt. Die Wirtschaft steht aber in Abstimmung mit dem Bamf (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, d. Red.) mit Sprachkursen zur Verfügung. Arbeitswillige könnten theoretisch morgen damit beginnen. Zudem haben wir in Bayern fünf Beratungsstellen, die Arbeitssuchende und Unternehmen zusammenbringen und die Anerkennung der beruflichen Abschlüsse vornehmen.
Wie lange dauert das?
Wenn Menschen hier auf der Flucht ankommen, haben sie oft nicht als erstes ihre Abschlüsse dabei. Das heißt, hier müssen sehr intensive Gespräche geführt werden. Wie lange es dauert, hängt davon ab, um welchen Beruf es geht.

Themen Zwangsprostitution und Menschenhandel intensiv im Fokus
Von was leben die Menschen, bis sie arbeiten können?
Sobald sie hier ihren Aufenthaltstitel haben, werden sie nach dem Asylbewerberleistungsgesetz betreut. Ihren Aufenthaltstitel haben sie dann zunächst für ein Jahr.
Angenommen, es klappt nicht mit der regulären Arbeit. Besteht die Gefahr, dass sich - zum Beispiel bei der Pflege zuhause - der Schwarzmarkt noch ausweitet?
Dieses Thema haben wir seit langem auf dem Schirm. Ich denke, das Entscheidende ist, dass die Menschen erstmal ankommen. Wir können ihnen zwar keine Heimat ersetzen, aber wir können ihnen helfen, dass sie sich hier sicher, wohl und geborgen fühlen - und dann den nächsten Schritt in Richtung Arbeitsmarkt gehen. Natürlich ist zu befürchten, dass der Schwarzmarkt an Fahrt aufnimmt. Aber es ist, denke ich, auch sehr im Interesse der Arbeitssuchenden, einen geregelten Rahmen zu haben.
Einige fürchten, dass sich Arbeitgeber vor allem auf billige Arbeitskräfte freuen. Teilen Sie diese Befürchtung?
Nein. Was wir aber wirklich sehr intensiv im Fokus haben, gerade, wenn Frauen hier ankommen, sind die Themen Zwangsprostitution und Menschenhandel. Wir sind dazu in intensivem Austausch mit der Polizei. Außerdem haben wir am Hauptbahnhof in München inzwischen 24-Stunden-Ansprechpartnerinnen, die ganz besonders auf diese Thematik achten. Wir müssen mit aller Kraft verhindern, dass Frauen in so einer Situation ausgenutzt werden.
Es gibt bereits erste Stimmen - auch aus Ihrer Partei - die sagen, man möge abgelehnte Asylbewerber jetzt schneller abschieben, um Platz für die ukrainischen Familien zu haben. Gehen Sie da mit?
Wir dürfen in so einer schlimmen Situation wie einem Krieg, der mitten in Europa passiert, nicht die einen gegen die anderen ausspielen. Wir haben sehr geordnete Asylverfahren und ich glaube, wir haben im Jahr 2015 viel dazu gelernt.
"Das Verteilsystem muss vom Bund aus besser gesteuert werden"
Nun ja. Wir haben wieder Chaos an Bahnhöfen, es gibt lange Schlangen bei den Registrierungen und Diskussionen um die Verteilung der Menschen.
Es sind einfach in kurzer Zeit viele Menschen, die zu uns kommen. Und es konzentriert sich so viel auf die großen Städte, München, Nürnberg und natürlich Berlin. Mein Feedback aus den Gesprächen mit Landräten und Oberbürgermeistern ist jedoch, dass es bei vielen gut klappt. Bayern hilft mit offenem Herzen. Allerdings ist kaum planbar, wer wann wo ankommt - das macht die Hilfe, auch für die Ehrenamtlichen, schwierig.
2015 waren überwiegend junge Männer unterwegs. Diesmal sind es vor allem Frauen mit Kindern. Was muss man da mit Blick auf die Hilfe beachten?
Ein konkretes Beispiel: In Berlin hat man gerade eine Unterkunft nur für hochschwangere Frauen geschaffen. Hinzu kommt: Die vielen Kinder, die ankommen, haben nach einiger Zeit einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, für die älteren besteht Schulpflicht. Und das bedeutet, wir müssen unsere Strukturen darauf vorbereiten. Das mache ich seit meinem ersten Tag. Das Problem dabei ist, dass Sie für Kinder, die in München ankommen, keinen freien Kitaplatz kriegen. Deshalb muss das Verteilsystem vom Bund aus besser gesteuert werden. Wir in Bayern haben den Königsteiner Schlüssel längst überschritten und rund 30 Prozent der Ankommenden aufgenommen. Eigentlich liegt unsere Quote bei 15 Prozent. Wir müssen die Unterbringung auch mit Blick auf die Jugendhilfe oder eine heilpädagogische Betreuung traumatisierter Kinder besser koordinieren und das geht nur, wenn wir vernünftig und gerecht verteilen.
"Deutsch-Sprachkurse werden in den Kitas angeboten"
Wie wollen Sie die ukrainischen Kinder in den bayerischen Kitas integrieren?
Wir können das nur stufenweise schaffen. Wir brauchen zunächst ein niedrigschwelliges Angebot. Am besten dort, wo die Menschen mit ihren Familien untergebracht sind. Dann geht es natürlich um den Spracherwerb. Deutsch-Sprachkurse werden in den Kitas angeboten. Und so kann man die Kinder auf einen tatsächlichen Kitaplatz vorbereiten. Am besten wäre es, wenn wir Mütter und Frauen finden würden, die in einem erziehenden oder vergleichbaren Beruf tätig waren. Sie könnten die Kinder dann zunächst begleiten. Das wäre eine ganz große Stütze.
Fast 200.000 Geflüchtete sind bereits nach Deutschland gekommen, in Bayern waren es Stand Freitag rund 60.000. Mit wie vielen Menschen rechnen Sie insgesamt?
Wir wissen es nicht. Je länger dieser schreckliche Krieg dauert, umso mehr Menschen werden flüchten. Ich kann mich nur den Schätzungen der großen Organisationen anschließen, die rechnen mit Millionen. Wie viele bei uns in Bayern ankommen, das ist ja die große Unbekannte, die das Planen so schwierig macht.
"Viele möchten so schnell wie möglich wieder nach Hause"
Sind unter den Ankommenden denn auch russische Oppositionelle?
Die Zahlen sagen, dass zwischen drei und vier Prozent der Flüchtlinge die hier ankommen, keinen ukrainischen Pass haben. Da sind Menschen aus Afrika dabei, da sind Studenten dabei. Aber die Zahl ist wohl verschwindend gering.
Was glauben Sie, wie lange die Menschen bleiben?
Ich höre, dass viele so schnell wie möglich wieder nach Hause möchten. Das ist auch einer der Gründe, warum zahlreiche Kriegsflüchtlinge direkt im Grenzgebiet bleiben, also in Rumänien, in Ungarn und Polen. Aber die Frage ist natürlich: Wenn sie zurück können, inwieweit finden sie ihre Unterkunft noch vor? Wie groß ist die Zerstörung? Das lässt sich derzeit sehr schwer sagen.
Sind Sie jetzt eigentlich auch Ukrainerin?
Nein, ich bin Bayerin. Aber ich fühle stark mit den Ukrainerinnen und Ukrainern.
Dass der Ministerpräsident gesagt hat, "Wir sind jetzt alle Ukrainer", kommt ja auch nur bedingt gut an. Der CSU wird vorgeworfen, dass sie sich in der Vergangenheit immer gerne mit Putin geschmückt und nun flugs die Seiten gewechselt hat. Wie stehen Sie dazu?
Ich finde es erschütternd, dass ein Mensch so viel Leid verbreitet. Es ist nicht der Krieg der Russen, es ist Putins Krieg. Dazu gibt es in der Staatsregierung und in den Regierungsparteien einen großen Konsens.