Sieglinde (53) gesteht: „Ich bin kaufsüchtig“

Erstmals gibt es eine wirksame Therapie gegen die Krankheit Kaufsucht: Die Erlanger Uni-Klinik weist den Erfolg eines neuen Behandlungsmodells nach. Es gibt lange Wartelisten.
Abendzeitung |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Wurde kaufsüchtig: Sieglinde Zimmer-Fiene
Bayernpress Wurde kaufsüchtig: Sieglinde Zimmer-Fiene

ERLANGEN - Erstmals gibt es eine wirksame Therapie gegen die Krankheit Kaufsucht: Die Erlanger Uni-Klinik weist den Erfolg eines neuen Behandlungsmodells nach. Es gibt lange Wartelisten.

Sieglinde Zimmer-Fiene kann nicht mit Geld umgehen. Das gibt die 53-Jährige offen zu. Als ihr Mann, der alles rund um die Finanzen geregelt hatte, plötzlich starb und sie mit zwei kleinen Töchtern auf sich gestellt war, wurde das kleine Manko zum Riesenproblem: Die junge Witwe wurde kaufsüchtig. Sechs bis acht Prozent der Deutschen sind gefährdet. Mit einer neuen Studie der Uni Erlangen wurde ein erstmal wirksames Therapie-Modell nachgewiesen, um exzessives Kaufen in den Griff zu bekommen. Die Wartelisten sind lang.

Kaufen, kaufen: Gleich drei Blumensträuße fürs Wohnzimmer oder Geschenke für die Kinder, obwohl die schon bettelten „Mama, bitte kauf’ uns nichts mehr. Wir wollen nichts mehr von dir.“ Sogar Schuhe, die eine Nummer zu klein waren, aber doch so toll zum Rock passten, kaufte Sieglinde ein. „Es war jedesmal wie ein Orgasmus“, erzählt sie heute. „Aber kaum bist du aus dem Laden raus, bricht die Welt wieder zusammen.“

Im Kaufen suchte die Sekretärin Anerkennung und Liebe. Das endete im Fiasko. Bald kamen die ersten Anzeigen der Gläubiger. „Irgendwoher bekam ich immer noch Geld. Ich wollte mir eine heile Welt aufbauen. Zum Schluss kaufte ich unter den Namen der Kinder.“

1994 stand dann die Polizei mit einem Unterbringungshaftbefehl vor der Tür. Sie bekam drei Jahre. „Ich saß mit Mördern und Kinderschändern. Eine Therapie bekam ich nicht.“ Schon beim ersten Freigang wurde sie rückfällig. Aus den drei Jahren hinter Gittern wurden acht. Erst 2002 wurde Sieglinde entlassen. Fast die Hälfte ihres Lebens war sie bis dahin von der Sucht beherrscht. Die Folge: Ihre Töchter hatten sich von ihr abgewandt, die Eltern enterbten sie. 170000 Euro Schulden drücken sie noch heute.

Sie gründete eine Selbsthilfegruppe. „Jeder Rückfall, über den ich dort offen sprechen konnte, hat mich weitergebracht. Kaufsucht kommt schleichend. Sie geht auch nur sehr langsam. Es ist wie Laufen lernen.“

Die Psychologin Astrid Müller, Leiterin der Kaufsucht-Studie an der Erlanger Uni, kennt dieses Problem, die Erzählungen von der Spannung und der Erregung vor dem Kaufen, der Befriedigung dabei und der Reue und den Schuldgefühlen danach. Meist würden die Sachen nicht mal benutzt, sondern gehortet oder verschenkt. Die erfolglosen Versuche, die Sucht selbst in Griff zu kriegen, scheitern. „Leider kommen viele erst, wenn sie völlig überschuldet sind.“

Ein Zusammenhang mit Einkommen und Bildung bestehe nicht, so Astrid Müller. Aber mit der „Verfügbarkeit“ der Ware. Die Anzahl der Kaufsüchtigen verfünffachte sich seit 1991 in nur zehn Jahren in den neuen Bundesländern. Kaufsucht ist es meist nicht allein: „Fast immer haben pathologische Käufer noch andere psychische Probleme wie Depression oder Angst.“ Oberstes Ziel ihrer Patienten: Einen Ersatz zu schaffen, wenn der Kaufrausch kommt. 51 Frauen und neun Männer im Alter zwischen 20 und 61 Jahren nahmen von November 2003 bis Mai 2007 deshalb an der Erlanger Therapie teil. Die Hälfte gilt als „clean“.

Auch der Nürnberger Ulrich K. war dabei. Seit 30 Jahren kämpft er gegen die Sucht. Mit hochwertigen Werkzeugen fing es an – am Schluss hatte er 70 Spiegelreflexkameras, 2500 Bände Fachliteratur (pro Stück 200 Mark), Massen an Werkzeug, eine zerbrochene Ehe und über 100000 Euro Schulden. „Heilung gibt es nicht. Die Gedanken an die Sucht sind ständig da.“ Aber K., der inzwischen die Selbsthilfe-Gruppe Kausud (steht für Kaufsucht und Depression) in Nürnberg gründete, hat gelernt, sich zu helfen: „Ich geh raus und fotografiere oder fahre mit dem Fahrrad voll Power bis der Kopf frei wird. Nach einer halben Stunde lässt der Druck dann nach.“

Andrea Uhrig

Die Kausud-Gruppe von Ulrich K. (Tel.01520/1999092) trifft sich zweimal im Monat oder unter www.psychosoma tik.uk-erlangen.de

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.