Seit Jahren regnet es Steine

Steinschlag war für sie Alltag. Doch jetzt hat ein Fels eine ganze Familie begraben. Nur Mutter und Sohn überleben schwerverletzt
Eine dünne Schneeschicht bedeckt am Dienstagmorgen den Unglücksort. Bestürzte Nachbarn kommen vorbei, zünden Kerzen an. Mit Tränen in den Augen gedenken sie Peter B. und seiner 18-jährigen Tochter Sophie. Beide fanden unter den Trümmern ihres Hauses den Tod. Nur Mutter Uschi (40) und Sohn Leon (16) überlebten die Tragödie vom Montagabend. In der Nacht wurden sie mit schweren Brüchen und Quetschungen aus dem Schutt geborgen.
„Da wird der Mensch ganz klein“, meint Rentner Raimund Achner beim Anblick des des tonnenschweren Felsblocks, der nicht nur ein Haus zermalmt sondern auch eine Familie zerschlagen hat. Eine Spaziergängerin zittert vor Entsetzen: „Fast jeden Tag bin ich hier vorbeigegangen. Und oft habe ich zu meinem Mann gesagt: Hier möchte ich nicht wohnen.“
Kurz vor 20 Uhr war es, als sich der riesige Brocken aus der Felswand löste und die Familie unter sich begrub. „Die ganze Familie war offenbar in einem Zimmer“, berichtet die Polizei. Beim Einsturz haben sich Hohlräume gebildet – nur so konnten Sohn Leon und Mutter Uschi überleben. Kurz nach ein Uhr nachts konnten die Helfer beide bergen. Joaquin Kersting, leitender Notarzt bei der Bergung, sagt, dass Sohn und Mutter in einem „überraschend guten Zustand“ waren – gemessen an dem, was hätte passieren können: Wenn Verschüttete zu lange in Hohlräumen ausharren, können sie auskühlen. Durch die unbequeme Lage kann es außerdem zur Zerstörung von Muskelgewebe kommen – was im schlimmsten Fall tödlich endet.
„Nach mehreren Operationen sind beide außer Lebensgefahr“, sagt Rupert Ketterl, ärztlicher Direktor des Klinikums Traunstein. „Wahrscheinlich werden sie wieder ganz gesund.“ Gestern Nachmittag erhielten sie allerdings die Nachricht, dass die Hälfte ihrer Familie ausgelöscht ist, dass es Vater Peter und Sophie nicht geschafft haben. Polizeisprecher Franz Sommeraue: „Die beiden waren vermutlich sofort tot.“
Hätte das Unglück verhindert werden können? Schon mehrere Male soll sich Geröll von dem Hang gelöst haben und heruntergestürzt sein. „Als ich Peter einmal im Herbst daheim besucht habe, war er gerade dabei, halbmeterhohe Brocken von seiner Garage runterzuräumen“, sagt Peter Kurz. Er kennt den getöteten Familienvater seit Jahren, die beiden sind zusammen im Kreisverband der Linken in Traunstein engagiert.
„Ich habe ihn gefragt, ob er nicht Angst hat, dass etwas Schlimmeres passiert“, erinnert sich Kurz. Doch Peter B. war offenbar sorglos. „Das haben wir schon seit Jahren hier, es kommt immer wieder mal was runter. Das muss man halt wegräumen“, soll er seinem Parteikollegen geantwortet haben. Der kannte die ganze Familie B.. „Es ist eine große Tragödie“, sagt er mit leiser Stimme.
Auch Nachbar Johann Kimmeringer kannt Familie B. gut. „Sie haben fünfzehn Jahre direkt neben uns gewohnt – sie waren sehr nett und höflich, wir mochten sie gerne“, erzählt er. Seine Schwester Rita Kimmeringer saß vor dem Fernseher, als sich wenige Meter entfernt der tödliche Felsbrocken aus der Wand löste: „Plötzlich hörte ich ein Geräusch, wie wenn große Steine aneinander gerieben werden. Es war komisch, ganz ungewöhnlich.“ Danach hört sie Blaulicht und Sirenen. Sie öffnet die Tür und schaut zur Familie B. hinüber. „Ich sah eine riesige Staubwolke“.
Der Braumeister der unmittelbar danebenliegenden Schlossbrauerei hatte die Rettungskräfte alarmiert. Als sich der Staub lichtet, trifft Rita Kimmeringer der Schock: „Das Haus war verschwunden, einfach nicht mehr da, nur noch Trümmer.“
Rita Kimmeringer, ihr Bruder und ihre Schwägerin müssen nach dem Unglück ihr Haus verlassen, sie übernachten bei Verwandten. Zu groß ist die Gefahr, dass sich weitere Felsstücke lösen und auch ihr Haus treffen könnten. „Es war immer schön, hier zu wohnen“, sagt die ältere Dame. Über hundert Jahre alt ist ihr Domizil, nur das Haus von Familie B. war noch älter. Dann schaut Rita Kimmeringer auf die Trümmer neben ihrem Heim und sagt: „Ich wohne seit 73 Jahren hier – und noch nie ist was passiert.“
Rudolf Huber, Verena Duregger, Reinhard Keck, Natalie Kettinger