Sechs Euro pro Tag! So wenig ist Tinas Leidensweg wert
Die Zwillingsmädchen waren nach Geburt behindert. Nach 25 Jahren erhalten die Eltern endlich eine Entschädigung.
NÜRNBERG Sage und schreibe 25 (!) Jahre lang mussten die Eltern eines behinderten Mädchens auf ihr Recht warten. Jetzt ist Deutschlands längster Zivilprozess zwar mit einem Vergleich vor dem Nürnberger Landgericht zu Ende gegangen, doch richtig glücklich ist keiner. Tina, die im Nürnberg Klinikum einen Geburtsschaden erlitt und danach ein Pflegefall war, ist nämlich bereits seit zehn Jahren tot. Der Prozess lief trotzdem weiter.
Tinas Eltern dachten in der Vergangenheit oft daran, die Flinte einfach ins Korn zu werfen und die Forderung nach Schmerzensgeld aufzugeben. Immer wieder türmten sich vor ihnen schier unüberwindliche Hindernisse auf. Mal musste das entscheidende Gutachten nachgebessert werden, aber der Gutachter war nach Australien verzogen. Mal waren medizinische Unterlagen der Klinik spurlos verschwunden, mal verpasste ein Anwalt eine entscheidende Frist. Tag um Tag, Woche um Woche, Jahr für Jahr verstrichen – und das Verfahren zog sich wie ein Kaugummi unerbittlich in die Länge.
Tinas Familie musste ihr ganzes Leben umstellen. Das Haus wurde behindertengerecht umgebaut, einer musste immer für das Mädchen da sein, fast jeder Handgriff musste ihm abgenommen werden. „Wir wollten sie aber auf gar keinen Fall in ein Heim bringen. Tina sollte bei uns in der Familie leben und voll integriert sein“, beschreibt ihr Vater die grundsätzliche Ausgangslage. Der Preis dafür waren unendlich viele Entbehrungen, die alle auf sich nehmen mussten – und ein hoher finanzieller Aufwand. Nicht alle anfallenden Kosten für die Pflege des Mädchens wurden nämlich von der Versicherung bezahlt.
Die Hälfte der 90.000 Euro verschlingen Anwalts- und Gutachterkosten
Besonders Julia litt unter der Situation. Sie ist Tinas Zwillingsschwester, kam aber im Gegensatz zu ihr völlig gesund auf die Welt. Bei Tina dagegen wurde während des Geburtsvorgangs die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn unterbrochen. Als die Ärzte endlich einschritten, war es zu spät. Bei dem Mädchen waren irreparable Schäden zurückgeblieben. „Bei einer genauen Kontrolle des Geburtsvorgangs wäre das nicht passiert“, ist Tinas Vater überzeugt.
Wer im Klinikum jedoch letztendlich für die Behinderung und das Leiden Tinas verantwortlich war, steht selbst heute noch nicht definitiv fest. Die Klärung dieser Frage, wenn sie überhaupt möglich gewesen wäre, hätte aller Wahrscheinlichkeit noch einmal Jahre gedauert. Das wollten sich Tinas Eltern nicht zumuten, sie gingen deshalb auf den Vergleich ein.
Zu den Details der Abmachung dürfen sie sich nicht äußern. Ihre Schweigepflicht ist darin festgelegt. Aber die Höhe der Entschädigung ist längst kein Geheimnis mehr. 90.000 Euro bekommen Tinas Eltern. Etwa die Hälfte davon verschlingen Anwalts- und Gutachterkosten. Der Rest ist angesichts des großen Leids nur ein Tropfen auf den heißen Stein - lächerliche sechs Euro Schmerzensgeld für jeden Tag.
Helmut Reister