"Schreckt viele ab": Immer mehr Ärzte in Bayern, aber Versorgung schlechter

Viele Ärzte haben keine Lust mehr, sich mit eigener Praxis niederzulassen. Gerade auf dem Land leidet die Versorgung. Wie sich verschiedene Programme in Bayern dem Problem Ärztemangel widmen.
von  Bernhard Hiergeist
Da bleiben die Wartezimmer leer: Mehrere Regionen in Bayern sind mit Ärzten unterversorgt.
Da bleiben die Wartezimmer leer: Mehrere Regionen in Bayern sind mit Ärzten unterversorgt. © Daniel Karmann/dpa

Der Ärztemangel im Freistaat wird akuter: Immer mehr Gebiete in Bayern sind mit Ärzten unterversorgt oder drohend unterversorgt. Die Kassenärztliche Vereinigung zählte im Dezember 13 unterversorgte Planungsbereiche. In sieben davon sind es Hausärzte, die fehlen, in anderen etwa Haut- oder Hals-Nasen-Ohren-Ärzte. In 35 Planungsbereichen herrscht "drohende Unterversorgung": in 18 Bereichen mit Haus-, in sechs mit Kinderärzten.

Und in diese Situation traf Ende des Jahres die Nachricht: In Bayern sind aktuell 70.616 Ärzte aktiv. Das teilte die Landesärztekammer mit und ergänzte: So viele berufstätige Ärzte gab es in Bayern noch nie.

Bayern hat so viele Ärzte wie nie - und trotzdem gibt es eine Unterversorgung

Immer mehr Ärzte und trotzdem schlechtere Versorgung? Wie kann das sein? Und kann die Reform bei den Hausarztpraxen, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) anstoßen will, daran etwas ändern?

Ulrich Pechstein hat mehrere Erkläransätze. Er ist Vorsitzender des Virchowbunds in Bayern, eines Verbands, in dem sich niedergelassene Ärztinnen und Ärzte zusammengeschlossen haben. Seit 20 Jahren führt er eine neurochirurgische Praxis in Nürnberg und hat in seiner Karriere einige Gesundheitsminister erlebt. Im Gespräch mit der AZ sagt er: "Die Verhältnisse haben sich im Laufe der Jahre kontinuierlich verschlechtert."

Bayern: Weniger Arztpraxen auf dem Land

Pechstein weiß noch nicht, ob seine Praxis weitergeführt wird, wenn er sich in einigen Jahren zur Ruhe setzt. "Es ist grade niemand in Sicht, der sie übernehmen will", sagt er. Damit läge er im Trend: Laut Ärztekammer ist die Zahl derjenigen, die eine eigene Praxis betreiben, im vergangenen Jahr leicht zurückgegangen. Niedergelassene Ärzte werden immer älter, weiß die Ärztekammer, genauso wie die Patienten – Stichwort demografischer Wandel. Und wer älter ist, geht in der Regel öfter zum Arzt. So kann es sein, dass es zwar mehr Ärzte gibt und trotzdem die Versorgung schlechter wird. 

Zugenommen hat auch die Zahl der angestellten Ärztinnen und Ärzte. Für die hat Pechstein Verständnis: Schließlich machten die komplizierte Gebührenordnung und das System der Budgetierung, also die Abrechnung der Patienten nach Pauschalen, die oft schwer einzuhalten sind, es niedergelassenen Ärzten schwer. Wieso sich den Stress an tun, wenn es leichter ist, sich in Praxen und Krankenhäusern auch anstellen zu lassen? Im zweiten Quartal 2023 hätten etwa niedergelassene Neurochirurgen nur zwei Drittel ihrer Leistungen von den Krankenkassen bezahlt bekommen. "Und diesen Rabatt geben wir seit 30 Jahren", sagt Pechstein. Damals hatte Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) das System der Fallpauschalen eingeführt. 

"Das schreckt heute noch viele ab", sagt Pechstein. "Nach langer Ausbildung arbeitet man dann in der Woche 60 bis 70 Stunden als Facharzt. Da möchte man, dass sich das irgendwann einmal auszahlt." Aber wenn sich als angestellter Arzt im Krankenhaus mit 40-Stunden-Woche besser verdienen lässt, ist die Motivation gering, sich mit eigener Praxis niederzulassen – am Ende leidet darunter vor allem die Versorgung auf dem Land. "Wenn man die Budgetierung aufhebt, könnten wir auch wieder mehr junge Ärzte gewinnen", glaubt Pechstein.

Gesundheitsminister Lauterbach trifft sich mit Ärzteverbänden

Aber ist das nun nicht genau der Plan von Gesundheitsminister Lauterbach? Nach einem "Spitzentreffen" mit Ärzteverbänden Mitte Januar stellte er seinen Maßnahmenkatalog vor: Lockerung der Budgetierung, zumindest bei den Hausärzten. Rezepte und Krankschreibungen sollen telefonisch gemacht werden können, Lockerung der Haftung, wenn Ärzte nach Meinung der Krankenkassen zu viel oder zu teure Medikamente verschreiben. All das soll die nach Lauterbach aufgeblähte Zahl der Praxisbesuche verringern helfen.

Die Verbände nahmen die Pläne skeptisch auf. Der bayerische Vorsitzende des Hausärzteverbands, Wolfgang Ritter, sagt auf AZ-Anfrage, es wäre verfrüht, von einem Wendepunkt zu sprechen. Es müsse nun rasch ein Gesetzentwurf folgen. "Die Lage in den Hausarztpraxen ist zu angespannt, um weiter Zeit zu verlieren." Deutlicher wurde der Virchowbund und nannte Lauterbachs Pläne in einer Mitteilung einen "Versuch die Ärzteschaft zu spalten und das Gesundheitssystem komplett umzubauen". Auch Ulrich Pechstein aus Nürnberg sieht die Pläne vollkommen am Thema vorbeigehen. Es bleibt kompliziert.

Mitte Januar traf sich Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mit Ärzteverbänden zum Spitzentreffen - die Reaktionen sind skeptisch.
Mitte Januar traf sich Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mit Ärzteverbänden zum Spitzentreffen - die Reaktionen sind skeptisch. © Carsten Koall/dpa

Zu Lauterbachs Plan gehört auch, jedes Jahr 5000 Mediziner zusätzlich auszubilden. Jedoch: Was nutzt das, wenn die dann alle in die Städte drängen? Damit die Haus- und Facharztpraxen auf dem Land nicht leer bleiben, gibt es in Bayern einige Instrumente und Maßnahmen. Der Hausärzteverband etwa unterstützt mit dem Programm "Bavarian Circle" Ärzte bei der Praxisgründung. Politik und Verwaltung dagegen werben mit Prämien, etwa einem Studienplatz. 

Stipendien und Anreize sollen Medizinstudenten aufs Land locken

So haben bis Ende Dezember 442 Studierende ihr Studium im Rahmen der "Landarztquote" aufgenommen, wie das Bayerische Landesamt für Gesundheit auf AZ-Anfrage mitteilt. Das bedeutet, dass bis zu 5,8 Prozent aller Studienplätze (also etwa jeder Siebzehnte) an Bewerber vergeben werden, die "ein besonderes Interesse an der hausärztlichen Tätigkeit im ländlichen Raum bekunden" – und sich auch vertraglich verpflichten, mehrere Jahre dort tätig zu sein.

Andere Programme arbeiten mit finanziellen Anreizen, etwa "FamuLAND" der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Dieses will Medizinstudenten darin bestärken, ein viermonatiges Praktikum dazu zu nutzen, Einblick in Praxen auf dem Land zu gewinnen. Das Programm wird gut angenommen, die Anzahl der Förderstellen wurde schon mehrfach erhöht, wie die KV auf AZ-Anfrage mitteilt, zuletzt auf 210 Plätze (30 pro Regierungsbezirk).

Gezielte Förderung: Wie die Niederlassung auf dem Land für Ärzte attraktiv werden soll

Da ein Medizinstudium aber recht lange dauert und das Programm noch nicht so lange läuft, kann die KV noch keine Aussage darüber treffen, ob sich die Teilnehmer verstärkt auf dem Land ansiedeln. Umfragen und Gespräche mit Teilnehmern deuten aber darauf hin, dass das Programm "tendenziell die Bereitschaft stärkt", später eine Tätigkeit auf dem Land in Betracht zu ziehen. Die KV hat in jüngerer Zeit sogar in unterversorgten Gebieten zwei eigene Praxen gegründet und plant sieben weitere.

Wer sich verpflichtet, bestimmte Zeit auf dem Land zu arbeiten, kann im Rahmen des Programms "Beste Landpartie" (BeLa) des bayerischen Gesundheitsministeriums ein Stipendium erhalten, in Höhe von 600 Euro monatlich. Mit dem Programm konnten bereit mehr als 300 Studentinnen und Studenten für eine spätere Tätigkeit im ländlichen Raum motiviert werden, wie eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums auf AZ-Anfrage schreibt. "27 Stipendiatinnen und Stipendiaten sind bereits als Fachärzte im ländlichen Raum tätig."

Einen besonderen Ansatz hat Wolfgang Blank gewählt. Er hat 2014 im Arberland im Bayerischen Wald gemeinsam mit drei Landarztkollegen das Projekt "LandArztMacher" gegründet, das angehende Ärztinnen und Ärzte für den Beruf und final in den ländlich Raum locken soll.

Arzt mit Praxis auf dem Land zu sein sei der "Hauptgewinn"

Wobei Blank sich schon an der Wortwahl stört. "Wir müssen keine jungen Ärzte aufs Land locken", erklärt er im Gespräch mit der AZ den Grundgedanken. Stattdessen müsse man diesen das Land zeigen – das heißt: die Menschen, die dort gut und gerne leben – und dabei eng unterstützen. "Dann erinnern sie sich später an diese Erfahrung, und dann ist es für sie eine Option, sich auf dem Land niederzulassen." 

In Gruppen von etwa zehn Menschen kommen junge Ärztinnen und Ärzte im Bayerischen Wald zusammen, wohnen und kochen für einige Wochen zusammen, und machen in Landarztpraxen in den umliegenden Landkreisen ein Praktikum. Begleitet wird das durch regelmäßige Lehrveranstaltungen an den Nachmittagen. Zurzeit sind etwa 40 Ärztinnen in vier Gruppen untergebracht. Insgesamt haben seit 2014 mehr als 450 junge angehende Mediziner am Programm teilgenommen.

Junge Ärztinnen und Ärzte bei der Fortbildung im Bayerischen Wald
Junge Ärztinnen und Ärzte bei der Fortbildung im Bayerischen Wald © LandArztMacher

"Sobald die jungen Ärztinnen und Ärzte das Land erlebt haben, wollen sie aufs Land", ist sich Blank sicher. Denn Landarzt zu sein, erklärt er, sei eben nicht defizitär, der Trostpreis, wenn es für die Stadt nicht gereicht hat. Für Blank ist es der "Hauptgewinn", das Beste, was einem Mediziner passieren kann. 

Darum gilt auch: "Wir können nur die Besten der Medizinstudenten in der Allgemeinmedizin auf dem Land brauchen", sagt Blank. Kein anderes Berufsbild vereine in sich so sehr fachliche Herausforderungen in der Breite mit verschiedensten sozialen Hintergründen – junge, alte, chronische, akute Patienten. Allgemeinärzte seien die besten Allrounder, mit hoher Verantwortung für den Patienten. Natürlich seien die Spezialisten in vielen Fällen fachlich versierter, "aber wenn Sie auf die einsame Insel gehen, nehmen Sie eben nicht den Herzchirurgen mit", sagt Blank. "Sondern den Allgemeinarzt."

Niedergelassene Ärzte arbeiten im Schnitt 53 Stunden pro Woche

Ja, niedergelassene Ärzte arbeiten viel, erklärt Blank. Laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sind es im Schnitt 53 Stunden pro Woche. "Aber ich habe mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun, es ist abwechslungsreich – ich gehe gerne in die Arbeit und zufrieden pünktlich nach Hause", sagt der Landarzt. "Sagen Sie das einmal einem Oberarzt aus der Uniklinik."

Nur: An den Universitäten erlebten Studierende kaum mal einen Landarzt, der aus Erfahrung berichten kann. "Und wenn Sie nie ein Beispiel gesehen haben, wissen Sie auch nicht, wie erfüllend das sein kann."

Dass bei den Teilnehmern des Programms etwas ankommt, haben Blank und Karoline Lukaschek vom Münchner LMU-Klinikum evaluiert. In einer Arbeit versuchten sie das Projekt anhand von Selbsteinschätzungen der Teilnehmer zu bewerten. Die Ergebnisse sind natürlich schwer zu messen, Blank und seine Kollegen formulieren darum sehr vorsichtig. Trotzdem: Die Bereitschaft, im ländlichen Raum zu arbeiten, war bereits zu Beginn hoch, steigerte sich aber. Und: "Die Studierenden haben nach dem Praktikum eine sehr viel genauere Vorstellung von der Tätigkeit von AllgemeinmedizinerInnen", heißt es in der Arbeit. 

Ärztemangel auf dem Land in Bayern: Pechstein mit klarer Idee 

Können die "LandArztMacher" Modell sein für ganz Bayern? Abhilfe schaffen in einem komplexen System, das, wie Neurochirurg Pechstein sagt, immer schlechter wird? Über Politik möchte sich Blank nicht äußern, er setzt auf die Sogwirkung des attraktiven Berufsbilds. "Wenn es sich mal herumgesprochen hat, wie schön der Landarztberuf ist, muss sich Bayern eher gegen den Ärztemangel in der Stadt wappnen", sagt er. 

Am Ende muss die Versorgung irgendwie funktionieren, nicht mehr und nicht weniger. "Das ideale System, das ich mir vorstelle", erklärt Neurologe Pechstein aus Nürnberg, "ist eines, wo selbstständige geführte Praxen die Versorgung gewährleisten; wo das bezahlt wird, was man als Leistung erbringt; eines, das auf Entwicklungen reagiert und sich auf Probleme vorbereitet". Klingt nicht spektakulär. Im Moment scheint Bayern von dieser Normalität aber weit entfernt.

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