Schon die Almwirtschaft war ein massiver Eingriff: Stehen wir jetzt in den Alpen vor einer neuen Stufe?

Der Philosoph Jens Badura fordert einen konstruktiven Dialog. Denn die Frage steht im Raum: Wie kann und wie soll sich die alpine Kulturlandschaft entwickeln, wenn sich Nutzungsbedarfe ändern? Bereits bei der Almwirtschaft sei der menschliche Eingriff massiv gewesen.
Kilian Pfeiffer |
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Windräder in den Alpen: Jens Badura möchte zumindest darüber diskutieren.
Windräder in den Alpen: Jens Badura möchte zumindest darüber diskutieren. © Imago

München - Der habilitierte Philosoph Jens Badura ist unter anderem Senior Scientist an der Universität für angewandte Kunst in Wien und Co-Leiter der Graduate School "Kulturen der Alpen" am gleichnamigen Institut der Universität Luzern. Er hat Philosophie, Biologie, Geschichte und Politikwissenschaften in Konstanz, Innsbruck und Tübingen sowie Kulturmanagement in Wien studiert.

Der Philosoph Jens Badura.
Der Philosoph Jens Badura.

AZ: Herr Badura, Sie leiten am Institut Kulturen der Alpen der Universität Luzern einen Arbeitsbereich mit dem Namen "Alpine Futures Literacy". Was machen Sie dort?
JENS BADURA: Der Philosoph Odo Marquard hat einmal die eingängige Formel geprägt: "Zukunft braucht Herkunft". Genauso aber braucht die Herkunft auch Zukunft. Um die Frage, wie mögliche Zukünfte für den Alpenraum aussehen könnten, konstruktiv behandeln zu können, haben wir den Arbeitsbereich geschaffen.

Geht es dabei vor allem um Gedankenspiele, oder gibt es konkrete Anwendungen des Konzepts in der Praxis?
Es geht darum, Impulse für ein Denken in Alternativen zu schaffen. Indem wir entlang konkreter Themenfelder und bezogen auf Herausforderungen wie den Klimawandel oder die Digitalisierung Szenarien für die zukünftige Entwicklung alpiner Regionen entwickeln. Wir versuchen, diese Szenarien so zu veranschaulichen, dass ein konstruktiver Dialog darüber möglich wird. Mit der Frage, ob und wie solche Szenarien Perspektiven für das Leben in den Alpen bieten könnten. Wir wollen auch wissen, was es konkret für das alltägliche Leben bedeuten würde, wenn man sie verwirklichen wollte. Dazu gehört vor allem auch die Einladung, Dinge anders sehen zu lernen und mit neuen Begriffen zu beschreiben. Wir arbeiten in transdisziplinären Teams, wo neben Wissenschaftlern auch Künstler und Praktiker dabei sind.

Solar- und Windkraftanlagen in den Alpen: Was, wenn sich der Bedarf ändert?

Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein Thema, das wir derzeit bearbeiten, ist die Frage, wie sich die alpine Kulturlandschaft entwickeln könnte, wenn sich Nutzungsbedarfe ändern. Was das für unsere Sehgewohnheiten bedeuten würde. Konkret geht es um die Kontroversen rund um die Etablierung von Solar- und Windkraftanlagen in alpinen Lagen. Also die Schaffung alpiner Energiekulturlandschaften und die Folgen für unsere ästhetische Wahrnehmung dieser Landschaften. Warum löst allein die Vorstellung bei vielen Menschen Unbehagen aus oder wirkt bedrohlich?

Auch die alpinen Landschaften, wie wir sie kennen, sind doch ein Produkt menschlicher Prägung?
Die heute als typisch empfundenen Kulturlandschaften sind ein Produkt massiver menschlicher Eingriffe und Umgestaltungen des Naturraums. Sie wurden vor dem Hintergrund akuter Bedarfslagen vorgenommen.

Eine traumhafte Aussicht, die aber in großen Teilen auch menschengemacht ist.
Eine traumhafte Aussicht, die aber in großen Teilen auch menschengemacht ist. © IMAGO / imagebroker

Sie vergleichen also die Entstehung der Almwirtschaft mit jener der alpinen Energiewirtschaft?
In gewisser Weise ja. Im Zuge der Entstehung der Almwirtschaft wurde die Baumgrenze großräumig erheblich tiefer gelegt. Die Anmutung der Umgebung wurde massiv verändert. Auch damals mussten und konnten sich Seh- und Nutzungsgewohnheiten an eine neue Realität gewöhnen. Dies geht sogar so weit, dass diese Umgebung heute als Inbegriff typischer Alpenlandschaft gilt. Der Umgebung wird ein identitätsstiftender Charakter zugeschrieben. Was können wir von diesem Prozess lernen und wie können wir das fruchtbar machen für die Arbeit an Szenarien für eine Zukunft, die neue Herausforderungen wie etwa den Klimawandel zu bewältigen hat?

Philosoph Jens Badura: Es geht nicht darum, zu werben

Sie werben indirekt dafür, Solaranlagen und Windräder in den Alpen nicht zu verteufeln?
Ich möchte kein Missverständnis provozieren: Es geht mir nicht darum, dafür zu werben, jetzt alle günstig exponierten Hänge oder Grate mit Solarpanelen und Windrädern zu verbauen. Es geht darum, den Möglichkeitsraum für eine fruchtbare Diskussion zu schaffen, die entsprechende Installationen nicht per se als Verschandelung oder Kampfansage an die alpine Landwirtschaft begreift. Zunächst einmal muss der Horizont geöffnet werden für die wirklich ergebnisoffen gestellte Frage, wie die Welt von und für morgen aussehen könnte - für die Gestaltung des alpinen Raums.

Was versprechen Sie sich davon konkret?
Impulse für eine offene, öffentliche Debatte zur Frage, inwieweit es nicht sinnvoll wäre, die Energiekulturlandschaften als Teil einer neuen alpinen Normalität sehen zu lernen. Die, die der Deckung anderer Nutzungsbedarfe dienen, als es im Rahmen der seit dem Mittelalter entstandenen Almwirtschaft der Fall war. Der massive Bedarf an Erneuerbarer Energie lässt sich zumindest in bestimmten Fällen im Alpenraum effizient produzieren. Natürlich kann es gute Gründe geben, bestimmte Projekte nicht umzusetzen. Wenn dabei im Hintergrund vor allem die Sorge um Verschandelung oder Bedrohung identitätsstiftender Landschaftsqualitäten steht, ist eine Diskussion über Selbstverständlichkeiten aber nötig. Dazu kann die Entwicklung einer Futures Literacy einen Beitrag leisten, weil diese eine gemeinsame Arbeit an solchen Zukunftsszenarien fördert, die auch offen dafür sind, sich die eigene Welt einmal anders vorzustellen. Ich bringe das Beispiel der Energiekulturlandschaft nicht, um zu sagen, dass ich mich für einen Experten oder Aktivisten für Erneuerbare Energie halte. Es dient vor allem als Modell für die Auseinandersetzung mit der Frage, wie festgefügte Vorstellungen davon, wie die Welt auszusehen hat, den Horizont für die Erkundung nach Möglichkeiten, wie sie aussehen könnte, beeinflussen und begrenzen.

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Gibt es bei Ihnen in der Universität noch andere Themen, die hier vor Ort diskutiert werden?
Ja. Etwa das Thema Wertschöpfungsoptionen, die in stark touristisch geprägten Regionen wie etwa Berchtesgaden die ökonomische Abhängigkeit vom Tourismus verringern. Das Narrativ "Entweder Tourismus oder Armut, Abwanderung, Aussichtslosigkeit" greift nicht mehr. Es geht darum, spezifische Ressourcen aus den entsprechenden alpinen Regionen heraus neu zu entdecken oder in Nutzungsbedarfe zu übersetzen. Wie etwa lässt sich das lokale Wissen im Umgang mit Holz, wie es seit Jahrhunderten aufgebaut wurde, für neue Anwendungen nutzbar machen? Dass so etwas sehr erfolgreich sein kann, hat in unmittelbarer Nachbarschaft die österreichische Gemeinde Kuchl mit ihrem Holzcluster vorgemacht. Ein anderes Beispiel ist der Aufbau von Forschung rund um den Nationalpark Berchtesgaden. Die lokale Besonderheit, der einzige Alpen-Nationalpark in Deutschland zu sein, wurde als Gelegenheit für die Schaffung neuer Vernetzungsmöglichkeiten mit Universitäten genutzt. In die Zukunft gedacht, geht man etwa der Frage nach, wie man sich etwa ein entsprechendes Kompetenzcluster "Alpinistisches Wissen" vorstellen könnte. Eines, das aus den örtlichen Erfahrungen und Kompetenzen schöpft und Leute anzieht, die hier in einem entsprechenden Umfeld etwas aufbauen wollen, etwa ein Kompetenzzentrum für Risikomanagement auch jenseits bergsportlicher Zusammenhänge.

Es geht also darum, neue Potenziale im Altbekannten zu erschließen?
Vor einiger Zeit wurde im Mittelmeerraum das Konzept eines Mediterranen Denkens geprägt. Damit verbunden ist auch die Frage, wie diese Besonderheiten heute zur Lösung von Problemen der Gegenwart nutzbar gemacht werden können. Mit einigen Kollegen versuche ich, analog dazu, die Spezifika eines Alpinen Denkens zu charakterisieren. Ich bin überzeugt, dass in den alpinen Traditionen und dem entstandenen Wissen viele Zukunftskeime stecken, denen man einen fruchtbaren Boden bereiten sollte.

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  • Besserwisser111 am 20.05.2024 16:31 Uhr / Bewertung:

    Wahnsinn. Und er hat Biologie studiert? Als Biologin finde ich solche "Akademiker" nur schädlich und sie werden noch leider von unseren bezahlt

  • am 20.05.2024 10:01 Uhr / Bewertung:

    In China, Vorbildland der „Grünen“, kann man einige dieser „Planspiele“ bereits konkret „bewundern“. Die vollkommene Zerstörung ganzer Landstriche durch Solarpaneele, die nach wenigen Jahren und einigen Hagelschauern brutalste Schäden an der Natur verursachen.

  • Rene Meinhardt am 19.05.2024 22:17 Uhr / Bewertung:

    "Ich bin überzeugt, dass in den alpinen Traditionen und dem entstandenen Wissen viele Zukunftskeime stecken, denen man einen fruchtbaren Boden bereiten sollte." Und dann? Und wenn nicht? Gäbe es den Arbeitsbereich mit dem Namen "Alpine Futures Literacy" nicht: welche Nachteile hätte dadurch die Menschheit und - abgesehen von den dafür eingesparten Ausgaben - welche Vorteile?

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