Schattenflotte in der Ostsee: Russland-Kenner aus Bayern warnt vor Eskalation
München - Seit einigen Wochen überschlagen sich an der Ostsee die Ereignisse. An Weihnachten fuhr ein Schiff, das Russlands großer Schattenflotte zugerechnet wird, mit ausgeworfenem Anker über den Meeresgrund und zerstörte damit eine wichtige Datenleitung zwischen Finnland und Estland.
Aktuell ist zudem die "Eventin", ein alter Tanker, vor der deutschen Küste in Sassnitz in Seenot. Sie soll nach Dänemark abgeschleppt werden. Über die Hintergründe und Putins taktisches Kalkül hat die AZ mit einem Russland-Kenner aus Bayern gesprochen, der fast ein Jahrzehnt in Moskau verbracht hat und aktuell für die Friedrich-Naumann-Stiftung in der litauischen Hauptstadt Vilnius tätig ist.
Russland-Kenner aus Bayern: "Putin nutzt diese Schiffe, um hybride Angriffe gegen den Westen durchzuführen"
AZ: Herr Freytag-Loringhoven, Hunderte russische Schattenschiffe – beladen mit viel Öl – sollen die Ostsee und das Mittelmeer 2024 durchquert haben. Was genau hat Putin dort vor?
JULIUS VON FREYTAG-LORINGHOVEN: Zur Schattenflotte gehören bis zu 17 Prozent der weltweiten Tankerflotte. Ihr Hauptzweck ist, Sanktionen zu umgehen, um Erdöl auf den internationalen Markt bringen zu können. Putin nutzt diese Schiffe auch, um hybride Angriffe gegen den Westen durchzuführen. Dabei wird zum Beispiel der Meeresboden kartografiert, um Infrastruktur auszuspähen und später zu zerstören.
Woher kommt der Begriff "Schattenflotte"?
Schattenflotte bedeutet, dass verschleiert werden soll, in welchem Auftrag Öl transportiert wird. Die Schiffe wechseln immer wieder die Registrierung. Ein Großteil der Tanker stammt aus kleinen, mittelamerikanischen und afrikanischen Ländern.

Wer ist an Bord dieser Tanker?
Das sind im Zweifel philippinische oder indonesische Arbeiter. Manchmal sind Spezialeinheiten mit an Bord, um beispielsweise die Infrastruktur von Nato-Staaten zu beschädigen. Mit primitiven Techniken – wie den Anker am Meeresgrund hinter sich herzuziehen – werden Datenkabel zerstört.
Bis zu 100.000 Tonnen Ladung: "Das Öl ist die Hauptfinanzierung Russlands für den Ukraine-Krieg"
Durch die Öltransporte nimmt Russland jährlich rund 193 Milliarden US-Dollar ein. Die "Financial Times" beschreibt die russische Wirtschaft als ein "Kartenhaus", das zusammenbrechen könnte, wenn die Flotte nicht mehr liefert.
Das Öl ist die Hauptfinanzierung Russlands für den Krieg in der Ukraine und den Haushalt der Russischen Föderation. Im Gegensatz zum Gas ist Erdöl ein flexibles Gut, das auch leicht umgeleitet werden kann. Deshalb ist es auch sehr schwer, den Erdölhandel aufzuhalten, weil es lauter kleine Schiffe und keine Pipelines sind, die man am Anfang und Ende kontrollieren kann. Wahrscheinlich traut man sich auch nicht, weil das einen sofortigen Anstieg des Erdölpreises bedeuten würde.
In den vergangenen Tagen machte vor allem das Schiff "Eventin" Schlagzeilen, das vor Sassnitz in Seenot geraten ist. Was droht im schlimmsten Fall, wenn derartige alte, unversicherte Tanker in der Ostsee unterwegs sind?
Es droht eine Verseuchung maritimer Lebensräume. Es kann zu unglaublichen Naturkatastrophen kommen.
"Es ist für mich exemplarisch": Experte kritisiert Bundeskanzler Olaf Scholz
Deutschland hätte die "Eventin" an Land ziehen und den Fall aufklären können. Das macht jetzt Dänemark.
In diesem Fall wird offensichtlich, wie sehr Deutschland bei der "Zeitenwende" hinterherhinkt. Es ist für mich exemplarisch, dass der Kanzler Olaf Scholz immer von Deeskalation spricht und nicht merkt, dass sein Vorgehen erst Eskalation hervorruft. Wenn man Russland machen lässt, dann treibt man Putin dazu, immer weiterzugehen.

Im Gegensatz zu Deutschland hat an Weihnachten Finnland anders reagiert, als ein Tanker die Datenleitung "Estlink 2" beschädigt hat. Der Staat hat das Schiff an Land gezogen und die Crew zum Teil verhaftet.
Die Finnen machen das, weil eine für sie zentrale Infrastruktur beschädigt wurde. Solche Angriffe gegen Nato-Partner wie Finnland sind als Angriff auf Deutschland zu werten, weil sie unsere Allianzpartner in der Verteidigung, im Binnenmarkt und im zivilgesellschaftlichen Zusammenleben sind.
Julius von Freytag-Loringhoven: In Deutschland wird die Bedrohung nicht wahrgenommen
Die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sagte, dass Russland in Kauf nimmt, dass der Tourismus an der Ostsee im Falle eines Unfalls "zum Erliegen" kommen könnte. Steht nicht mehr auf dem Spiel?
Ich vermute, dass die Außenministerin damit versucht, die Bedrohung für die deutschen Bürger greifbarer zu machen. Es ist ein Versuch, Aufsehen in einem Land zu erregen, in dem die echte Bedrohung noch nicht wahrgenommen wird.
Was muss in der Ostsee passieren – welche Möglichkeiten gibt es?
Die Kommunikationswege innerhalb der EU und Nato müssen verkürzt werden. Es muss eine zentrale Stelle geben, die verschiedene maritime Behörden zusammenführt. In Deutschland sind über 20 Landes- und Bundesbehörden zuständig. Es muss ein Gefahrenatlas in der Ostsee zusammengestellt werden, damit man weiß, welche Infrastruktur besonders schützenswert ist.
Russland-Kenner fordert stärkere Kontrollen
Muss dafür auch die Präsenz von Nato-Schiffen erhöht werden?
Ja, es muss häufiger patrouilliert werden. Zivile Schiffe müssen in enger Abstimmung mit den anderen Ländern strenger überwacht werden. Damit man frühzeitig reagieren und Schiffe schneller festsetzen kann – bevor sie Infrastruktur zerstören.

Wie blicken baltische Länder auf Deutschland?
Man kann sich gar nicht vorstellen, wie aufmerksam deutsche Medien und Aussagen von Politikern hier verfolgt werden. Die Menschen, mit denen ich in Estland, Lettland und Litauen spreche, wissen meistens genau Bescheid, was in der deutschen Innenpolitik passiert. Grundsätzlich ist man seit Verkündung der "Zeitenwende" 2022 etwas beruhigter. Trotzdem gibt es große Sorgen, was die deutsche Kriegstüchtigkeit anbelangt.
"Die Balten haben Angst vor Olaf Scholz"
Wie blickt man dort auf die anstehende Bundestagswahl?
Die Hoffnung liegt auf all den Parteien, die unsere Bundeswehr besser ausstatten und die Nato-Abschreckung gegenüber Russland ausbauen wollen. Insbesondere vor der AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht gibt es große Bedenken, weil sie die Interessen Russlands unterstützen. Bis zu einem gewissen Grad haben die Balten auch Angst vor Olaf Scholz. Sie denken, dass die Verzögerung der Unterstützung der Ukraine fortgeschrieben werden könnte und damit die Sicherheit im Baltikum ebenfalls gefährdet ist.
Das klingt nicht gerade beruhigend.
Was vielen nicht klar ist: Das könnte auch die Vorbereitung eines tatsächlichen Angriffs sein. Wenn Russland seine Position in der Ukraine festigen kann, befürchten viele Balten, dass morgen die estnische Stadt Narva oder Daugavpils in Lettland attackiert werden könnte.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Freytag-Loringhoven.