Sanitäter in Bayern berichten über knifflige Situationen: "Das muss sich ein Gynäkologe anschauen"

Sankas werden immer häufiger gerufen – oft wegen Kleinigkeiten. Das spüren auch die Retter beim Bayerischen Roten Kreuz. Die AZ hat einen Sanitäter in Odelzhausen im Kreis Dachau besucht.
von  Niclas Vaccalluzzo
Daniel Ernst (41) merkt in seiner Rettungswache in Odelzhausen eine Zunahme der Einsatzzahlen.
Daniel Ernst (41) merkt in seiner Rettungswache in Odelzhausen eine Zunahme der Einsatzzahlen. © Vaccalluzzo

Odelzhausen - Gerade fährt einer der gelb-roten Einsatzwagen auf den Hof vor der Rettungswache. Drin sitzt Daniel Ernst, der gerade von einem Einsatz zurückkehrt. Seit 15 Jahren ist er hauptberuflich im Rettungsdienst tätig, seit neun Jahren leitet er die Rettungswache in Odelzhausen. Noch knapp eine Stunde dauert seine Schicht an diesem Donnerstagmorgen.

Rettungswacht in Odelzhausen:  Das müsse sich ein Gynäkologe anschauen

"Eine ältere Dame mit einer vaginalen Blutung", berichtet der Notfallsanitäter der AZ über den Einsatz. Es ist der zweite heute - dabei wird es in dieser Schicht auch bleiben. "Wir haben die Dame schlussendlich ins Krankenhaus gefahren – das hätte aber auch ein Verwandter oder ein Krankentransport machen können." Das müsse sich ein Gynäkologe anschauen, sagt Ernst. "Da können wir nicht viel machen."

Der Einsatz steht sinnbildlich für eine Entwicklung, die sich seit Jahren vollzieht: immer mehr und immer längere Einsätze, die oftmals keine größeren Notfälle sind. "Man spürt von Jahr zu Jahr eine Zunahme", sagt der Notfallsanitäter.

Die Zahl der Notfalleinsätze ist 2023 laut Innenministerium zwar um etwa 25.000 auf rund 1,91 Millionen zurückgegangen. Ansonsten ist hingegen seit Jahren ein stetiger Anstieg zu beobachten. Im Jahr 2019 wurden bayernweit noch 1,7 Millionen Einsätze verzeichnet. Einen Anstieg bestätigt auch das BRK: 2023 habe es 262.431 Notfalleinsätze (2019: 226.522) gegeben. Das BRK betreibt im Freistaat rund 80 Prozent des gesamten Rettungsdienstes.

Bayerisches Rotes Kreuz: Oft besser erst zum Hausarzt

Hinzu kommt: "Die Zahl der Anrufe in unseren Integrierten Leitstellen ist in den letzten Jahren erheblich mehr geworden", sagt Sohrab Taheri-Sohi, Sprecher des BRK, der AZ. Dementsprechend müssten auch die Rettungswagen häufiger ausrücken. Der Anteil der tatsächlichen Notfälle würden sich jedoch kaum verändern: "Viele unserer Einsätze sind keine lebensbedrohlichen Situationen, oft wäre der Gang zum Hausarzt das probatere Mittel", sagt Taheri.

"Zum einen ist das Bequemlichkeit, aber auch Unwissenheit", sagt Ernst. Auch die langen Wartezeiten bei den Ärzten würden eine Rolle spielen. "Da ruft man dann vielleicht lieber den Rettungsdienst an."

Ein weiteres typisches Beispiel sei der Einsatz bei einem Mann gewesen, der sich vor Rückenschmerzen kaum noch bewegen konnte. Dieser habe gesagt, er hätte schon die ganze Woche unter schlimmer werdenden Rückenschmerzen gelitten. Erst als es dann zu spät gewesen sei, habe er den Notruf gewählt – anstatt vorher schon zum Arzt zu gehen.

Es fehlt an den Strukturen

"Im Rettungsdienst wird es teilweise immer unattraktiver, weil du so viel fahren musst und oftmals auch einen Schmarrn fährst, für den der Hausarzt eigentlich zuständig wäre", beklagt Ernst. "Du bist im Endeffekt ein Blaulichttaxi."

Das BRK sieht in der ambulanten Versorgung einen wesentlichen Grund für den Anstieg der Notrufe. Die Menschen würden sich oft nicht anders zu helfen wissen und könnten oft nicht anders, weil andere Strukturen der Gesundheitsversorgung nicht im ausreichenden Maße verfügbar sind.

Corona hat Situation verschärft

Die Belastung durch die häufigeren Einsätze führt mitunter dazu, dass sich die Einsatzdauer verlängert. 2022 lag diese dem Rettungsdienstbericht von 2023 zufolge im Median bei einer Stunde und 23 Minuten. "Während Corona waren wir für einen Einsatz teilweise drei bis vier Stunden unterwegs", sagt Ernst.

Aber auch nach der Pandemie sind die Probleme geblieben: "Der Personalmangel in den Krankenhäusern ist die größte Baustelle", sagt der Notfallsanitäter. Die Versorgungslücken führten dazu, dass sich Krankenhäuser zeitweise von der Notfallversorgung abmelden müssten und von den Rettungskräften nicht angefahren werden könnten.

Zwei Stunden Anfahrt in die Klinik

Sanitäter wie Daniel Ernst müssten dann die nächstgelegenen Einrichtungen – oft in München oder Augsburg - anfahren und sind dementsprechend länger unterwegs. "Das Weiteste war eine Anfahrt in eine Klinik in Garmisch, da bin ich zwei Stunden gefahren." In zwölf Minuten sollte ein Rettungswagen beim Patienten sein. Aus dem aktuellen Rettungsdienstbericht 2023 geht hervor, dass diese sogenannte Hilfsfrist im Jahr 2022 in etwa 85 Prozent erreicht werden konnte. Im Vorjahr waren es noch 87 Prozent und 2013 sogar 92 Prozent.

Dieser Wert allein ist jedoch nicht sehr aussagekräftig, da in der Realität oft schon vor Eintreffen des Sankas Hilfe bei den Patienten ist. Hierfür unterstützen etwa Helfer-Vor-Ort-Einheiten, auch First-Responder genannt. Aber auch hier macht sich Daniel Ernst sorgen, denn die ehrenamtlichen Helfer werden weniger. Gerade im ländlichen Bereich seien diese jedoch eine wichtige Stütze. Sie sind oft schon nach wenigen Minuten beim Patienten.

Technische Lösung nötig

Einen Weg, um mit den zahlreichen Notrufen umzugehen, sieht Taheri-Sohi unter anderem in der in Bayern seit Ende vergangenen Jahres bestehenden besseren Vernetzung zwischen Bereitschaftsärzten und Notrufleitstellen. Es sei nun technisch möglich, dass Integrierte Leitstellen Einsatzaufträge direkt an den Bereitschaftsdienst (Telefon 116 117) übermitteln – und umgekehrt.

So könne direkt koordiniert werden, welche Fälle wo landen, und der Rettungsdienst gleichzeitig um fehlgeleitete Fälle entlastet werden. Wichtig ist laut Taheri-Sohi aber vor allem die Vorsorge und Prävention. "Die ist der Schlüssel, um die Gesundheitsversorgung in Zukunft auf bessere Beine zu stellen." Bei kleinen Lappalien und Nichtigkeiten gesundheitlicher Art fehle es an ausreichend Anlaufstellen – zulasten der Rettungsdienste.

Sanitäter erleben übergriffige Erlebnisse bei Einsätzen

Notfallsanitäter Ernst beobachtet noch eine weitere Entwicklung: Die Wahrnehmung von Rettungskräften hat sich verändert. "Beleidigungen oder Anpöbelungen nimmt man schon immer wieder wahr." Er sagt: "Manchmal steigere ich mich da gewaltig rein und manchmal ist mir das einfach wurst." Trotz ländlichem Einsatzgebiet habe es auch schon körperliche Übergriffe gegeben.

"In meiner Laufbahn hatte ich das zweimal", so der 41-Jährige. Es gebe aber nach wie vor genügend Menschen, die unglaublich dankbar seien, und das motiviere ihn. Trotz allem hielten sich das Positive und das Negative ganz gut die Waage. "Das ist der coolste Job, den ich mir vorstellen kann."

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