Ran an Elsas Nervenkostüm

NÜRNBERG - Netrebko, Roche, Neuenfels und Co: Große Namen und spannende Konstellationen dominieren die neue Theater- und Opernsaison - ein Streifzug
Der Sprung von der Bestseller-Liste auf die Bühne wird neuerdings auch ohne großen Anlauf gewagt. Während Andrea Maria Schenkels Doku-Krimi „Tannöd“ immerhin zwei Jahre brauchte (und nun zwischen Fürth und Hamburg an vielen Orten landet), sind Charlotte Roches bohrende Erkenntnisse aus Intimzonen blitzschnell im Spartenwechsel. In Halle/Saale, wo Peter Sodann alias Kommissar Ehrlicher als Aufbau-Intendant einst für saubere Kunst sorgte, wird noch im September zum Besuch der „Feuchtgebiete“ mit großer Geste eingeladen, als ob die „Vagina-Monologe“ Junge gekriegt hätten. Zur Leseprobe ließen die Schauspieler schon mal hinderliche Textilien fallen.
Das Spektakuläre an den Planungen für die neue Saison steckt meist mehr in den Namen der Interpreten als in den Projekten. Werktreue-Papst Peter Stein und der führende Selbstdarsteller Klaus Maria Brandauer, die gemeinsam Schillers „Wallenstein“ stemmten, werfen sich am Berliner Ensemble auf das Kleist-Lustspiel vom „Zerbrochnen Krug“. Spaßiger Nebeneffekt: Tina Engel, eine der starken Frauen aus den legendären „Schaubühnen“-Zeiten, kehrt zu Meister Stein als Frau Marthe zurück — und inszeniert im März 2009 selbst das ganze Stück am Hamburger Ernst-Deutsch-Theater.
Eifernd geifernde Schmäh-Runde mit Griff ins Klo
Nebenan im Berliner Deutschen Theater führt Kino-Star Nina Hoss ein Team an, das Werner Schwabs eifernd geifernde „Präsidentinnen“ in eine neue Schmäh-Runde mit Griff ins Klo schicken will.
Der Drang der SchauspielGrößen zur Oper hält an, bekommt aber nun überraschend Gegenverkehr. Calixto Bieito, der in den letzten Jahren zwischen Mozart und Puccini immer eine breite Blutspur fand, macht sich in Mannheim an Schillers „Don Karlos“ ran und der flotte Musiktheater-Aufmischer Barrie Kosky, der mit grellen Einfällen zu Ligetis „Le Grand Macabre“ und Porters „Kiss me, Kate“ die Intendanz der Komischen Oper Berlin eroberte, wechselt am Deutschen Theater zu Strindbergs absolut glamourfreiem „Traumspiel“ — noch weiß niemand, wo die Premiere wegen der Umbauverlängerung des Hauses stattfinden wird.
In der Spitzengruppe der Spielleiter wird zwischen den Sparten gewechselt. Freikörper-Sensibilist Jürgen Gosch, der durch „Macbeth“-Anarchie unfreiwillig die stumpfsinnige „Ekeltheater“-Debatte auslöste und letzte Saison mit „Onkel Wanja“ das seit Jahren intensivste Theatererlebnis einer deutschen Bühne schuf, kehrt nach langer Distanz wieder zur Oper zurück. Während er weiteren Tschechow auf München („Platonow“) und Berlin („Die Möwe“) verteilt, übernimmt der derzeit vielleicht wichtigste Regisseur des Sprachraums am Krisenhaus der Deutschen Oper eine neue „Carmen“-Deutung mit Angelika Kirchschlager.
Andreas Kriegenburg, der für Oper bislang in Magdeburg übte und neben seinem Thalia-Stammhaus in Hamburg („Urfaust“, „Menschenfeind“) auch die Münchner Kammerspiele bedient (Kafkas „Prozess“), wird dort gegenüber an der Staatsoper mit Kent Nagano auch Alban Bergs „Wozzeck“ inszenieren. Michael Thalheimer, der überwiegend erfolgreiche Klassiker-Minimalist, der von Lessing bis Aischylos selten mehr Zeit als ein Kinofilm braucht, hat grade im Zelt vor dem Berliner DT „Was ihr wollt“ mit lauter Männern losgelassen und wird in Hamburg bei Schnitzlers erotischem Ringelspiel „Reigen“ wohl nicht ohne Frauen auskommen. Ob er bei der „Entführung aus dem Serail“ mit der Reduktions-Ästhetik zum Ziel kommt, wird sich an der Linden-Oper zeigen. Eine überraschende Entwicklung macht Falk Richter durch, denn der „Schaubühnen“-Autor wird Tschaikowskys „Eugen Onegin“ an der grundsoliden Wiener Staatsoper und „Lohengrin“ in Frankfurt inszenieren. Das Schwanen-Rennen wäre damit eröffnet, denn Bayreuths „Parsifal“-Retter Stefan Herheim bringt das Ritterspiel in Berlin heraus, und schließlich soll 2010 Hans Neuenfels am Grünen Hügel ran an Elsas Nervenkostüm. Er wird zunächst auf sichererem Terrain tätig, wenn er an der Komischen Oper „La Traviata“ inszeniert. Eine Erweiterung seiner unendlichen Verdi-Erfolgsgeschichte, die einst in Nürnberg mit dem sensationellen „Troubadour“ begann und nun sieben Titel umfasst.
Peter Konwitschny hat sich als Chefregisseur von Leipzig anwerben lassen und geht es mit Schönbergs „Pierrot Lunaire“ und einer Neuauflage seiner schon geläufigen „Aida“ (Triumphmarsch als Ententanz am Sofa) übersichtlich an. Der wahre Saison-Kraftakt von Konwitschny besteht wohl darin, dass er ebenfalls die Stamm-Sparte wechselt und im fremden Schauspiel gleich nach dem Schwierigsten greift. In Graz inszeniert der Opernregisseur Shakespeares Alters-Drama "König Lear". Derweil taucht sein früherer Widersacher Harry Kupfer wieder auf, betreut für Hamburg eine „Lustige Witwe“ und nimmt sich in Frankfurt mit Pfitzners kardinalsreichem „Palestrina“ das zölibatäre Gegenprogramm vor. Da ist er in Konkurrenz zu Christian Stückl, denn der milde Revoluzzer von Oberammergau und Salzburg will die klerikale Rarität an der Münchner Staatsoper entblättern.
Schrullige Altmeister und Goldkehlchen in Konkurrenz
Von den Regie-Altmeistern bleibt Peter Zadek schrullig mit Shaws „Major Barbara“, Luc Bondy kehrt mit der Uraufführung „Leichtes Spiel“ zu Botho Strauß zurück (beides in Zürich), Dieter Dorn plant am Residenztheater für sich den Klassiker „Alkestis“ des Euripides. Sein designierter Nachfolger Martin Kusej kehrt für Karl Schönherrs „Weibsteufel“ ans Burgtheater, das er gern übernommen hätte, zurück, hat aber mehr Lust auf Oper. In München plant er Verdis „Macbeth“, in Zürich Strawinskis „The Rake’s Progress“ – dort mit Pult-Sonderfall Nikolaus Harnoncourt.
Wer Goldkehlchen fangen will, muss wählen. Ob er auf Jonas Kaufmann als „Lohengrin“ in München wartet oder den Aufsteiger-Tenor lieber in Gesellschaft von Emily Magee und Thomas Hampson in der Gala-„Tosca“ von Zürich erleben will, ob der Lensky eher Rolando Villazón (Berlin) oder Ramón Vargas (Wien) heißen soll. Und ob er die wunderbare Christine Schäfer in der gewiss ungewöhnlichen Interpretation der „Lucia di Lammermoor“ in Frankfurt erwischt. Sollte der Koloratur-Fan eine der beiden Serien der Wahnsinns-Oper in Wien bevorzugen, muss er aufpassen – eine singt die aus dem Mutterschutz zurückgekehrte Anna Netrebko, die andere im gleichen Rahmen die 30 Jahre ältere Edita Gruberova. So ist das halt in der Oper. Dieter Stoll