Pfusch-Opfer klagt: „Die haben mich verhunzt“

Birgit Böhm ging mit Knieschmerzen zu einen Orthopäden. Der spritzte Kortison – das Knie entzündete sich, doch keiner reagierte: Nach 20 OPs in fünf Jahren wurde das Bein amputiert.
von  Abendzeitung

INGOLSTADT - Birgit Böhm ging mit Knieschmerzen zu einen Orthopäden. Der spritzte Kortison – das Knie entzündete sich, doch keiner reagierte: Nach 20 OPs in fünf Jahren wurde das Bein amputiert.

Wenn Birgit Böhm heute eine Arztpraxis betritt, ist ihr Mann Lothar immer dabei. Die 46-Jährige ist misstrauisch geworden. Im Sommer 2002 vertraute sie sich mit Schmerzen im rechten Knie bedenkenlos einem Ingolstädter Orthopäden an. Es war der Beginn einer jahrelangen Leidensgeschichte mit mehr als 20 Operationen, an deren Ende die Mutter von zwei erwachsenen Kindern ihr rechtes Bein verlor.

„Ich habe mich am Anfang gut aufgehoben gefühlt“, erinnert sich die Kinderkrankenschwester an den Juli 2002. Der Orthopäde, der ihr empfohlen worden war, behandelt ihre Knieschmerzen mit Kortisonspritzen. Eine gängige Behandlungsmethode. Doch die dritte Spritze verändert alles.

"Ich konnte nicht aus eigener Kraft stehen"

Es ist ein Mittwoch. Mittags setzt der Arzt die Spritze. Am Abend schon kommt Birgit Böhm wieder in die Praxis. Diesmal mit einem dick angeschwollenen, rot entzündeten Knie und höllischen Schmerzen. „Ich musste meine Schicht abbrechen, Ich konnte nicht aus eigener Kraft stehen.“ Der Mediziner unterschätzt die akute Gefährdung. Später wird ein Gutachter feststellen, dass er umfassender nach einer Entzündung hätte forschen müssen. So aber entlässt der Orthopäde die Patientin mit einem Verband, einer Packung Antibiotikum und dem Hinweis, sie solle das Bein ruhig stellen. Das Blut wird nicht auf eine Entzündung hin untersucht.

Böhms Schmerzen enden damit freilich nicht. Ständige Nachfragen beim Arzt bringen keine Klärung. Vor dem Wochenende empfiehlt er einen Zinkleimverband, um die Schwellung zu mindern. Dann fährt er in die Ferien.

Eine Woche nach der Injektion diagnostiziert die Urlaubsvertretung einen Abszess. Es stellt sich heraus, dass Keime im Spiel sind: E-Coli-Bakterien – Fäkalkeime. Endlich passiert, was schon eine Woche vorher nötig gewesen wäre: Das Gelenk wird gereinigt.

Schon bei der Einweisung war nicht klar, ob das Bein zu retten ist

Die kommenden Monate verbringt Birgit Böhm abwechselnd zuhause und in Kliniken. Ihr Zustand verschlechtert sich wieder und wieder. Im Oktober, als die Schmerzen unerträglich sind und sie den Notdienst alarmiert, schießt ihr zum ersten Mal der schreckliche Gedanke durch den Kopf: „Die haben mich verhunzt.“ Schon bei der Einweisung in die Unfallklinik Murnau ist nicht klar, ob das Bein überhaupt zu retten ist. So stark ist der Knieknorpel geschädigt. Von da an wird Böhm ein Jahr im Rollstuhl sitzen, ihre Familie pflegt sie rund um die Uhr.

2004 bekommt sie ein künstliches Kniegelenk. Doch auch das bringt nicht die gewünschte Verbesserung. „Ich dachte schon, ich hätte vom vielen Liegen das Laufen verlernt“, sagt sie. „Dabei hatte ich so sehr gehofft, dass endlich alles überstanden ist.“ Sie versucht sogar, wieder als Krankenschwester zu arbeiten. Doch es bleibt ein Versuch. Nach einem halben Jahr findet sie sich erneut als Patientin im Krankenhaus wieder. Nach und nach breiten sich die Bakterien im ganzen rechten Bein aus. Böhm kann sich schon nicht mehr erinnern, wann sie zuletzt ohne Schmerzmittel auskam.

Ein Ärzteteam rät ihr, sich das Bein versteifen zu lassen. Doch sie erfährt auch die bittere Wahrheit: Die Keime könnten sich auch danach noch ausbreiten.

Die verunsicherte Patientin recherchiert selbst. Und stößt auf die Fachklinik für Amputationsmedizin im niederbayerischen Osterhofen. Seit der folgenreichen Kortisonspritze sind fast fünf Jahre vergangen. Böhm erfährt, dass es kaum Hoffnung auf Heilung gibt. Wegen der Keime ist die Situation extrem kritisch. Im Mai 2007 entschließt sie sich zu einer Oberschenkelamputation.

"Die Gegenseite meinte, ich hätte mir die Keime selbst gespritzt"

Längst läuft parallel die gerichtliche Auseinandersetzung mit dem Orthopäden. Als ob das ständige Bangen um die Gesundheit von Birgit Böhm die Familie nicht schon genug belasten würde, müssen sie sich ständig gegen Anschuldigungen verteidigen.

„Die Gegenseite wollte das Gericht wirklich Glauben machen, dass ich mir die Keime selbst gespritzt habe“, erzählt Birgit Böhm kopfschüttelnd. Als Krankenschwester verfüge sie schließlich über ausreichende Kenntnisse. Die ständigen Unterstellungen deprimieren Böhm. „Man fühlt sich so abgewertet.“ Im September 2009 kommt es zu einem Vergleich. Juristisch bedeutet das: Die Gegenseite erstattet Birgit Böhm einen Verdienstausfall- und einen Haushaltsführungsschaden sowie Schmerzensgeld. Was fehlt, ist ein tatsächliches Schuldeingeständnis des behandelnden Arztes.

„Rein rechtlich gibt der Arzt nicht zu, dass es ein Behandlungsfehler war“, erklärt Lothar Böhm. Seine Frau blickt traurig: „Er hat sich nicht einmal bei mir entschuldigt. Wenn wir uns begegnen, weicht er mir aus.“

An ihr Leben mit der Prothese hat sich Birgit Böhm gut gewöhnt. Sie geht ins Fitnessstudio und hat Nordic Walking als Sport für sich entdeckt. Die größte Freude macht ihr Enkel Benjamin, der vor kurzem zur Welt kam. „Endlich lebe ich wieder“, sagt sie glücklich. „Ich darf sogar wieder Autofahren.“ Wären da nicht die schmerzvollen Komplikationen. In den kommenden Tagen muss zum zweiten Mal nachamputiert werden. Birgit Böhm verliert ihren Mut nicht: „Es gibt viele Menschen, denen es schlechter geht.“

Vanessa Assmann

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.