Oberammgergau: 150 Zwerge für ein Hosianna
OBERAMMERGAU - Wenn in Oberammergau zum ersten Mal massenweise Kinder und Erwachsene gemeinsam für die Passion proben, ist das wie ein Aufnahmeritual: Jetzt gehören die Kleinen dazu - ein Besuch bei den Proben.
Am Samstag bejubeln sie bei minus vier Grad den Messias, am Sonntagnachmittag schreien sie „Kreuzige ihn!“: Bis zu 500 Bürger des Passionsdorfes Oberammergau standen am Wochenende gleichzeitig auf der Bühne des Passionstheaters – bei den ersten Volksproben für die Spiele, die am 15. Mai beginnen. Regisseur Christian Stückl dirigiert die Kinder, Frauen und Männer. Ein Massenspektakel und zugleich Aufnahmeritual für die Jüngsten: Jetzt gehören sie dazu!
Samstag, 15 Uhr: Grüne und rote Textbüchlein liegen bereit, die Erwachsenen unterschreiben auf der Anwesenheitsliste – für das Probengeld. Dann scharen sich alle um den Regisseur, Stückl steht auf einem Podest und ruft: „Die Grünen nach links, die Roten nach rechts.“ Und: „Jetzt probier ma des ,Heil Dir’ und schaun, wer sie no erinnert!“ Die Luft auf der Freiluftbühne ist eisklar, die Stimmung feierlich-freudig, das „Heil Dir“ ist gewissermaßen Oberammergaus Nationalhymne. Ein Bub sagt erschreckt: „Jetzt hab i mein Zettel vergessen.“ Dann ist das knittrige Papier da und sie singen erst ein wenig holprig, dann mit kerniger Kraft.
Wer in Oberammergau laufen und singen kann, ist dabei - auch Dreijährige
Das Lied begleitet den Einzug von Jesus nach Jerusalem, es gehört wie die Würstl in der Theaterkantine zu den ersten, prägenden Passionserfahrungen eines Oberammergauers. Sobald sie laufen und singen können, sind sie dabei – auch Dreijährige singen mit. Alle zehn Jahre zeigen sie das Leiden, Sterben und die Auferstehung des Herrn, ganze Familien stehen auf dem Bühnenboden, der heuer blau ist.
Ob die Kleinsten hier und heute aber verstehen, was Stückl mit „Hurerei“ und „Ehebruch“ meint, das ist erstmal egal. Die älteren Kinder machen Faxen, als er die Stelle mit der Ehebrecherin erklärt, die Kleineren blicken gebannt zu ihm hoch. „Ihr müsst’s dann ,Huuuh’ sagen – aber nicht wie eine Versammlung von Nikoläusen.“ Klar und einfach sind seine Anweisungen. Stückl brennt für die Sache, er ist der Einzige hier, der weder Schal noch Mütze braucht. Jetzt ist das Passionsgefühl da.
„Hosianna“ rufen 150 Kinder im Chor, Stückl: „Da geht mehra!“ „Hosianna dem Sohne Davids“, sagt Stückl, eine Kleine in Rosa ruft ganz allein: „Hosianna dem Sohne Davids!“ Gelächter, Stückl nimmt sie hoch zu sich.
Die Gemeinde rechnet mit 28 Millionen Reingewinn
Einige Hauptdarsteller wirken sehr stolz, ihre Kinder sind zum zweiten Mal dabei. Vitus war vor zehn Jahren ein Baby, sein Vater Martin Norz spielte Jesus und hatte ihn auch mal auf der Bühne im Arm. Der 13-jährige David hingegen war damals drei und fürchtete sich arg vor der Kreuzigung. Wie soll ein Kleinkind verstehen, dass der blutende, schreiende Mann am Kreuz nicht stirbt? Die erste Passion prägt die Kinder fürs Leben. Davids Vater Walter Rutz sagt: „Ein Außenstehender kann das nie ganz verstehen.“
An einem Tag wie heute ruhen die Konflikte, für die das Dorf berühmt ist. Es ist in zwei Lager gespalten, Ludwig Utschneider steht rechts außen im Pulk auf der Bühne und lässt sich bereitwillig herumdirigieren. Der Realschullehrer führt die Fraktion der Freien Wähler im Gemeinderat – die Stückl-Gegner. Dass heuer erstmals bis in die Nacht gespielt wird, darüber sagt er: „Diese Spielzeiten sind für Besucher aus dem Umland eher ungünstig.“ Dass eine Pharaogestalt zu sehen sein wird, ist „ein Bruch in der ganzen Linie“, aber im Volk macht Utschneider wegen seiner beiden Söhne mit. Vor einem Jahr hatte sein Parteikollege Florian Streibl sogar ein „Kriseninterventionsteam“ gefordert – das Nachtspiel gefährde die Ehen im Dorf. Jetzt ist die Rede von „Tagesmüttern“, die man brauche, wenn Eltern abends spielen und die Kinder daheim sind. Ein bisschen mosert Utschneider dann doch. Wegen der Spielzeiten hätten „50 Leute ihr Mitwirkungsrecht zurückgegeben“. Leise fügt er hinzu: „100 eventuell“.
Es ist nicht der richtige Moment, um gegen den Regisseur mobil zu machen. Die Gegner warten ab, wie gut „der Passion“ läuft – das Spiel ist hier männlich. Mit 28 Millionen Reingewinn rechnet die Gemeinde, 32,8 Millionen betragen die Investitionen. Allein 20 Millionen machen die Honorare aus. Das Geld wird nach einem speziellen Schlüssel verteilt, ein Jesusdarsteller erhält vor Steuer etwa 25 000 Euro, einer im Volk gut 4000. Gemessen daran, dass es 102 Aufführungen sind und viele „einen Job sausen lassen“, wie Stückl sagt, ist das nicht viel. Im Vergleich zum Passionsjahr 2000 sind die Honorare um 16 Prozent gestiegen – die Kartenpreise aber um 80 Prozent. Der Ort braucht Geld, die Schulden betragen deutlich über 20 Millionen Euro.
30 Schafe werden bei der Tempelszene auf die Bühne getrieben
Bei der Volksprobe spielt Geld keine Rolle, alle sind mit Hingabe dabei. Viele der Männer mit den langen grauen Bärten standen schon als Kinder hier. Wie Gerd Waldhauser (67), in München bekannt als „Manila“ und Wirt der Schwabinger Sieben. Er ist einer von fünf Händlern – bei der Probe erkennbar an einem Besen, den er hochhält. 1950 spielte Manila zum ersten Mal mit. Dieses Mal hat er sogar ein bisschen Text – als Vogelhändler. Mit einem Leuchtstift hat er die Stelle angestrichen. Als Jesus zetert: „Verlasst die heilige Stätte! Hinaus mit dem allen!“, da ruft der Manila bald drauf: „Meine Tauben!“ Ein Satz, immerhin.
30 Schafe wird Stückl bei der Tempelszene auf die Bühne treiben lassen, heute sind keine da, die Kinder machen „mähmäh“. Ein weißblonder Junge mit roter Mütze tanzt aus der Reihe, Stückl schnappt ihn sich und sagt später: „A paar Hundskrüppel hast immer dabei, da muaßt scho streng sei.“ 540 Kinder in drei Gruppen führt der Regisseur, für die ist er nur „der Chrischtian“. 70 Meter breit ist die riesige Bühne, Stückl rennt durch die Menge und bildet Gassen, sagt zur Horde rechts: „Da is a Loch, da müssen mehra nach hinten.“ Es ist faszinierend zu sehen, wie virtuos der 48-Jährige die Laiendarsteller führt. Nach zwei Stunden ist Schluss, dann wird’s zu kalt und die Unruhe zu groß. Stückl ruft: „Was ihr Euch jetzt merken müsst’s, ist ganz grob die Stelle!“
Ab Februar proben sie jedes Wochenende die Massenszenen, bejubeln am Samstag den Messias und fordern am Sonntag seine Kreuzigung. Aber einen Darsteller muss Stückl noch auswählen, im Dorf gibt es drei mögliche Kandidaten: für den Esel, auf dem Jesus in Jerusalem einzieht.
Katharina Rieger (Text), Ronald Zimmermann (Fotos)
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