Nürnbergs schlimmste Familie: So tief ist der Abgrund wirklich

NÜRNBERG - Zweiter Verhandlungstag im bizarren Prozess um den Armbrust-Anschlag auf Buben, der die Mutter beim Sex mit dem eigenen Bruder erwischte
Richter Rüdiger Neidiger ist nicht zu beneiden. Die Suche nach der Wahrheit ist sein Geschäft, doch so schwer wie diesmal hat er es nicht immer. Um herauszufinden, wo die Wahrheit endet und die Lüge anfängt, muss er hinabsteigen in die abgründigen Tiefen einer verkommenen Familie, der moralische Grundsätze anscheinend völlig abhanden gekommen sind. Den Prozess gegen Karin R. (38) und ihren Sohn Mark (19) vor dem Nürnberger Landgericht dominieren Begriffe wie Inzest und Hörigkeit, Mordversuch und Kindesmissbrauch. Wer wann welche Rolle spielte, steht auch nach dem zweiten Prozesstag nur in groben Zügen fest. Das Einzige, was außer Frage steht, ist die Tatsache, dass Michael (18), Sohn beziehungsweise Bruder der Angeklagten, den Schuss von einer Armbrust nur mit Glück überlebte. Der Pfeil prallte an seinem Brustbein ab, statt sein Herz zu durchbohren.
Das vermutete Inzestverhältnis zwischen Mutter Karin und Sohn Mark spielt eine Schlüsselrolle
Das von der Staatsanwaltschaft angenommene Inzestverhältnis zwischen Mutter Karin und Sohn Mark spielt in dem Strafverfahren eine Schlüsselrolle – und weckt zugleich das Interesse der Zuhörerschaft. Auf den Bänken, die der Öffentlichkeit vorbehalten sind, ist schon vor Verhandlungsbeginn kein einziger Platz mehr frei. Was ist das für eine Frau, die mit ihrem eigenen Sohn Sex hatte? Das ausschließlich ist die Frage, die in den Verhandlungspausen von den Zuhörern allenthalben diskutiert wird. Die Spekulationen angesichts des verwerflichen Tabubruchs kennen kaum eine Grenze. Das liegt vor allem daran, dass die intimen Details unter Ausschluss der Öffentlichkeit zur Sprache kommen. Mark, des gemeinschaftlichen Mordversuchs bezichtigt, genießt aufgrund seines jugendlichen Alters, ebenso wie sein Bruder Michael, ein besonderes Maß an Persönlichkeitsschutz.
„Sie hat mich nicht zum Schuss auf meinen Bruder animiert“
Mutter Karin fällt in erster Linie durch ihre unvorteilhaft toupierten Haare, die knallengen Jeans und ihre extrem spitz zulaufenden Stilettos auf. Ihr aufwändiges Makeup beweist zudem, dass der Kosmetiknachschub in der U-Haft auch noch ein gutes Jahr nach ihrer Festnahme funktioniert. Zu den Vorwürfen hat sie sich bisher vor Gericht nicht geäußert. Die Form des Schweigens zieht auch ihr Sohn Mark vor. Nur ein einziger Satz ist ihm gestern über die Lippen gekommen. „Sie hat mich nicht zum Schuss auf meinen Bruder animiert“, beeilte er sich zu sagen, als das Stichwort der Hörigkeit von ihm zu seiner Mutter fiel.
Diese Mutmaßung brachte eine Zeugin ins Spiel, die Mark und seinen Bruder Michael wahrscheinlich besser kennt, als deren leibliche Mutter. Elisabeth W. wurde vom Jugendamt mit der Betreuung der Buben betraut, als Karin R. die beiden im Stich ließ, um ihr eigenes Leben zu führen. Juristisch ist es nur eine Randnotiz, dass sich im Abstand von wenigen Jahren der Vater von Mark und Michael das Leben nahm – und dann auch Karin R.’s nächster Freund.
War Eifersucht die Triebfeder?
Elisabeth W. schilderte eindringlich, wie die beiden entwurzelten Jugendlichen immer mehr den Halt verloren und auf die schiefe Bahn gerieten. Eine Eskalation der verworrenen Familienverhältnisse entstand ihrer Einschätzung nach, als Mark wieder bei seiner Mutter leben durfte – und Michael nicht. „Das“, so sagte sie, „hat bei ihm Eifersucht ausgelöst.“ War das die Triebfeder, die Michael dazu bewog, im Bekanntenkreis zu verbreiten, dass sein Bruder und seine Mutter ein Inzestverhältnis hätten? Im Keller will er die beiden in flagranti erwischt haben – und zeigte sie an. Dabei erhob er auch noch den Vorwurf, dass seine kleine Stiefschwester (7), die gestern ebenfalls als Zeugin gehört wurde, missbraucht worden sei. Die Beschuldigten reagierten laut Anklage zwei Monate später, im Februar 2008, mit dem Mordanschlag. Der Prozess geht heute weiter. Helmut Reister