Nürnbergerin: „Ich überlebte meinen eigenen Ehrenmord!“

Sengüls (36) Zwangsehe mit Rasit D. war eine Katastrophe: Er schlug und misshandelte sie ständig. Sie überlebte einen Mordanschlag – und ist jetzt eine äußerst erfolgreiche Geschäftsfrau
von  Abendzeitung
Sengül Obinger wurde in Nürnberg geboren, das Mädchen wurde in einer Atmosphäre totaler Unterdrückung groß.
Sengül Obinger wurde in Nürnberg geboren, das Mädchen wurde in einer Atmosphäre totaler Unterdrückung groß. © abendzeitung

Sengüls (36) Zwangsehe mit Rasit D. war eine Katastrophe: Er schlug und misshandelte sie ständig. Sie überlebte einen Mordanschlag – und ist jetzt eine äußerst erfolgreiche Geschäftsfrau

AZ: Am 8. August 1997 haben wir schon einmal über Sie berichtet.

SENGÜL OBINGER: Das war am Tag, nachdem ich meinen Ehrenmord überlebte. Mein Mann Rasit stürmte die Wohnung meiner Eltern und schoss auf mich, meine Schwägerin, meine Tochter, meinen Vater. Die Schüsse galten mir, es war ihm aber egal, wen er sonst noch mitnimmt.

Warum?

Weil ich die Scheidung eingereicht hatte. Durch ein Wunder wurde niemand verletzt. Mein Vater stellte sich schützend mit einer Axt vor mich, da floh mein Mann in unsere frühere Wohnung in der Nürnberger Nordstadt. Er legte dort Feuer, schoss sich in den Kopf und starb.

Wie haben Sie diesen Mann kennen gelernt?

Ich sah ihn einmal bei einem Besuch in der Türkei, mit 13. Mit 17 erfuhr ich, dass ich ihm versprochen war. Meine Mutter hat das ausgehandelt.

Ist das üblich?

In vielen muslimischen Familien. Mit 17 hatte ich keine Schulbildung, es langte nur zur Hauptschule, nicht zum Quali. Bücher durfte ich nicht lesen. Ich habe bis dahin die Nürnberger Innenstadt nicht gesehen, obwohl ich in Großreuth wohnte. Wäre ich in die Fußgängerzone gegangen und dabei erwischt worden, hätte ich als Schlampe gegolten und Prügel bezogen. Was ich zu tun hatte, war, im Haushalt zu helfen, den Mund zu halten und auf meine Jungfräulichkeit achtzugeben. Beziehungsweise tat das meine Mutter.

Wie denn?

Sport oder Kaffee waren verboten. Viele Türkinnen glauben, das schade dem Jungfernhäutchen. Meine Mutter ist eine ungebildete Analphabetin. Sie lebte 35 Jahre in Deutschland und spricht kein Deutsch. Ich habe früh erkannt, dass ich nicht so leben will.

Was haben Sie dafür getan?

Zunächst nichts, das war unmöglich durch die engmaschige Kontrolle von Mutter und zwei Brüdern.

Mit der Heirat wurde es nicht besser?

Mit 17 eröffnete mir meine Mutter, dass ich heiraten werde. Es war ein Schock. Ich hatte panische Angst, doch ich konnte mich nicht wehren, das hätte meinen Tod bedeutet, weil ich Schande über die Familie gebracht hätte. Ich dachte naiv: Ich zieh’s durch – und lass mich dann scheiden. Drei Monate vor der Hochzeit kam er nach Nürnberg.

Wie war die Zeit?

Er hat mich geschlagen, mich mit Gewalt an sich gerissen. Bei einem Spaziergang durch den Marienbergpark prügelte er mich von einem Ende zum anderen, weil ich einen harmlosen Witz über das Aussehen eines Mannes gemacht habe.

Hat niemand eingegriffen?

Passanten riefen die Polizei. Als die Beamten erfuhren, dass mich da mein Zukünftiger verprügelt, waren die fassungslos. Sie versuchten mich zu überzeugen, diesen Mann nicht zu heiraten. Doch ich hätte ihnen nie erzählen können, dass ich zwangsverheiratet werde.

Warum nicht?

Auch mein Vater war gewalttätig. Ich wusste nicht, wer schneller darin ist, mich umzubringen, wenn ich was gesagt hätte – Vater oder Rasit.

Sie haben im Juli 1992 standesamtlich hier geheiratet, kurz darauf in der Türkei.

In der Hochzeitsnacht war ich bereits schwanger – ungewollt. Er schnitt sich in den Finger, um den 500 Gästen, von denen ich niemanden kannte, das blutige Laken präsentieren zu können. In dieser Nacht schlug er mir derart ins Gesicht, dass mein Auge am nächsten Tag komplett zugeschwollen und blau war.

Das muss doch jemand bemerkt haben.

Mein Vater sagte: Wenn er das war, bringe ich ihn um. Doch damit hätte ich eine Blutfehde zwischen zwei Familien heraufbeschworen. Mit der Verantwortung kann kein Mensch leben. Also log ich, ich sei gestürzt. Von da an verprügelte er mich fast jeden Tag.

Was geschah mit dem Kind?

Berna ist jetzt 17, sie ist geistig und körperlich behindert, vermutlich durch die Schläge ihres Vaters.

Sie konnten sie nicht schützen?

Er prügelte sie, seit sie sechs Monate alt war. Immer schloss er die Tür ab. Ich hörte ihr Wimmern, ich höre es heute noch, es bricht mir noch immer das Herz. Ich bemühte mich, die Tür einzuschlagen, schaffte es nicht, oft rief ich die Polizei. Doch ich hätte ihn anzeigen müssen. Aber auch hier gilt: Ich wäre meines Lebens nicht mehr sicher gewesen, wenn ich das getan hätte. Es waren fünf Jahre Folterkammer mitten in Nürnberg.

Sie schafften es dennoch, dieser Hölle zu entkommen.

Ich wusste: Wenn ich ihn verlassen wollte, brauche ich Geld. Ich entschied mich für eine Ausbildung als Steuerfachangestellte. Ihm konnte ich es nur schmackhaft machen durch das Geld, das ich verdiente.

Die Ausbildung ist schwer, Sie haben doch nur Hauptschulabschluss?

Bei der Aufnahmeprüfung bin ich auch durchgefallen. Aber ich habe allen Mut zusammengenommen und der Kommission mein Leben erzählt. Ich habe sie angefleht, dass mein Leben – buchstäblich – von dieser Ausbildung abhängt. Sie gaben mir die Chance, obwohl sie nur Schüler ab der Realschule nahmen. Als ich das Ja hatte, habe ich geweint.

Das Ticket in die Freiheit.

Obwohl ich nicht wusste, was das überhaupt ist, Steuerfachangestellte. Ich wusste nur, dass es mit Paragraphen zu tun hat. Das hat mich gefreut.

Warum?

Ich war mit meinem Vater, einem notorischen Prügler, sehr oft bei Anwälten. Als ich zwölf war, sah ich eine Juristin: 1,80 Meter groß, wunderschön in ihrer Robe, autoritär – die erste Frau, vor der mein Vater Respekt hatte. Ich wollte so werden wie sie, das war mein größter Traum. Sie trug eine Aktentasche, das war für mich das Symbol für das Leben, das ich führen wollte.

Wie viele Aktentaschen haben Sie jetzt?

Sechs! In allen Variationen! Doch damals duldete Rasit die Ausbildung nur wegen des Geldes. Er tobte und verprügelte mich, wenn ich lernte. So tat ich es heimlich, immer nachts.

Und die Misshandlungen?

Die gingen weiter. Ich habe um mein Leben gelernt. Dann hatte ich den Mut und sagte ihm: Wenn ich die Prüfung bestehe, verlasse ich dich. Einen Tag vor der Prüfung wollte er mich einsperren. Ich drohte, die Polizei zu rufen. Da verprügelte er mich so, dass ich bei der Prüfung meine rechte Hand mit der linken führen musste, weil sie durch die Schläge so zitterte. Vier Wochen später war mein Zeugnis im Briefkasten – bestanden! Ich habe so laut gejubelt und geschrieen, dass meine Nachbarin dachte, mein Mann verprügelt mich wieder.

Verließen Sie ihn dann?

Erst fand ich einen Job in einer Steuerkanzlei und betreute von dort aus eine Firma. Ich kam in eine neue Welt: Ich war von Menschen umgeben – von sehr netten Menschen!

Sie waren integriert?

Sofort. Einmal wurde ich zu einer Einweihungsfeier eingeladen, natürlich verbot er es mir. Ich ging dennoch. Und trank mit 23 das erste Glas Sekt meines Lebens. Als ich an diesem Abend zurückkam, eskalierte alles. Er verprügelte mich und Berna wie nie zuvor. Da platzte in mir alles, ich hätte ihn um ein Haar umgebracht. Er war betrunken, hing über dem Kind, ich schlang ihm einen Gürtel um den Hals und zog zu. Aber ich konnte es nicht. Ich rief meinen Bruder an. ,Hol mich hier ab, sonst ist er tot – oder ich’. Mein Bruder kam. Ich ging zu meinen Eltern.

Doch Rasit hielt nicht still.

Als er den Scheidungsbrief erhielt, stürmte er in die Kanzlei. Er zwang mich, hinauszugehen. Auf der Straße prügelte er mich krankenhausreif, bis mein Chef und ein Kollege ihn festhielten. Die Polizei nahm ihn fest, dann flüchtete er in die Türkei. Dort galt ich als Schlampe, die Schande über die Familie gebracht hat.

Dort wurde auch Ihr Tod geplant.

Ja, von seiner Familie. Er besorgte sich die Pistole, fuhr los und versuchte, mich umzubringen.

Wie reagierte seine Familie auf seinen Selbstmord?

Die war ein Jahr lang hinter mir her. Bei einem Beschneidungsfest traf eine Kugel der Freudenschüsse versehentlich einen seiner Cousins. Der empfand das als Strafe Gottes und sagte sterbend, man soll mich in Ruhe lassen. Das geschah.

Und Ihre Eltern?

Die leben wieder in der Türkei, ich habe keinen Kontakt mehr zu ihnen. Damals bin ich drei Wochen später ausgezogen. Ich hatte kein Geld, keine Wohnung. Mein Chef half mir. Ich arbeitete sieben Tage die Woche, um mich und Berna über Wasser zu halten. Ich hatte zwar nur eine Halbtagsstelle, aber ich wollte Berufspraxis und habe rund um die Uhr gearbeitet und abends gelernt. 1999 begann ich die zweite Ausbildung zur Personalfachkauffrau. Und kaufte mir den ersten Aktenkoffer, mein Freiheits-Symbol. 2003 wurde ich Personalleiterin einer Firma – und lernte meinen Traummann kennen, mit dem ich einen drei Jahre alten Sohn habe. Jetzt bin ich Beratungsstellenleiterin eines Lohnsteuerhilfevereins und zur Bezirksleiterin berufen worden. Zusätzlich arbeite ich für eine Steuerkanzlei.

Mit Hauptschulabschluss...

Genau! Seit Juli bereite ich mich außerdem auf meinen Steuerberater vor.

Das ist ein Märchen.

Ja, mit Happy End. Ich fühle mich wie Pretty Woman, ich liebe mein Leben und die Freiheit, selbst wenn es nur das Bratwurst-Weggla in der Innenstadt ist, das früher meinen Tod bedeutet hätte.

Das Interview ist viel zu kurz für Ihr Leben – schreiben Sie doch alles auf!

Ich bin dabei. Das Buch soll Frauen Mut machen und ein Beispiel sein, dass alles geht. Man braucht Ehrgeiz, Mut und Willen. Und den Glauben an sich selbst.

Susanne Will

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.