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Notaufnahmen wegen Lappalien verstopft – Mythos oder Wahrheit?

Die Notaufnahmen im Land sind komplett überlastet, auch weil immer mehr Menschen mit Wehwehchen kommen. Eine oft gehörte Erzählung. Doch was ist wirklich dran?
Bernhard Hiergeist |
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In den kommenden Jahren soll die Zahl der Patienten in den Notaufnahmen weiter steigen.
In den kommenden Jahren soll die Zahl der Patienten in den Notaufnahmen weiter steigen. © IMAGO / argum

Werden die Menschen tatsächlich immer bequemer? Geht, wer am Samstagabend Verstopfung bekommt und Bauchschmerzen hat, tatsächlich direkt in die Notaufnahme, weil er nicht mehr bis Montag warten möchte, um sich beim Hausarzt erst einmal ins Wartezimmer zu setzen? 

Viele Notfallmediziner können solche Anekdoten erzählen. Dazu kommen Berichte von überfüllten Notaufnahmen, nicht nur zur Erkältungszeit. "Auch in der Notaufnahme des Universitätsklinikums rechts der Isar steigt der Anteil minderschwerer Notfälle", teilt das Haus auf AZ-Anfrage mit. "Unter anderem bedingt durch lange Wartezeiten auf Facharzttermine." Ähnliche Auskünfte bekommt man bei vielen anderen Kliniken, egal ob groß oder klein. Und die Situation droht sich noch zu verschärfen: Die zweite Münchner Notfallstudie geht bis 2040 von einem "deutlichen Anstieg der Fallzahlen in den Münchner Notfallversorgungseinrichtungen" aus.

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Notaufnahmen ausgelastet: Was ist wirklich ein Notfall?

Liegt es am Ende nur an den ungeduldigen Patienten, die gar keine "richtigen" Notfälle sind? Im vergangenen Jahre regte der Präsident des Verbands der Kinder- und Jugendärzte an, Eltern eine Strafe aufzubrummen, die mit ihren Kindern unnötigerweise in die Notaufnahme kommen. 

Aber ob es so einfach ist? Wer Angst um das eigene Kind hat, hält den eine potenzielle Strafgebühr ab? Und empfindet nicht der Patient mit schlimmer Verstopfung seine Situation durchaus als akuten Notfall? Wie sollen Menschen ohne medizinische Kenntnisse ihre Situation angemessen einschätzen?

In Deutschland kann jeder einfach in die Notaufnahme

"Das große Ziel von allen Reformen sollte sein, dass der Patient das kriegt, was er braucht – und nicht das, was er gerne hätte", sagt Christof Chwojka im Gespräch mit der AZ. Chwojka ist Co-Geschäftsführer der Björn-Steiger-Stiftung, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für die Verbesserung der Notfallhilfe und des Rettungswesens einsetzt. "Jeder kann in die Notaufnahme eines Uniklinikums gehen, und es gibt keinen der sagt, du musst da vielleicht gar nicht hin."

Denn in Deutschland – das kritisieren viele Ärzte oder Pflegekräfte – entscheidet der Patient selbst, wo er zur Behandlung hingeht. Und der Gang in die Notaufnahme, so die landläufige Meinung, sichert die sofortige und umfassende Therapie. "Dabei ist das ja gar nicht immer ausgemacht", sagt Chwojka. Dass aber gerade angesichts von Hausärzten, die in Rente gehen, und Kliniken, die schließen, Menschen gezielt die Notaufnahmen aufsuchen, kann er durchaus verstehen. Was in den Notaufnahmen passiert, ist immer auch ein Symptom für alles, was in einem Gesundheitssystem nicht gut läuft. Und man sollte auch nicht vergessen: Nicht jeder Selbsteinweiser ist per se falsch in der Notaufnahme.

Die Mentalität habe sich geändert, sagt Chwojka. "Viele der heute 30 bis 35-Jährigen haben überhaupt keinen Hausarzt mehr", sagt Chwojka. Generell sei die Gesundheitskompetenz gesunken, also Wissen um klassische Hausmittel, Wadenwickel oder Inhalationen etwa. Hilft nicht im Notfall, hat aber verhindert, dass Menschen vorschnell in die Notaufnahme gehen.

Notfallmedizin ist mehr als nur die Notaufnahmen

Was tun? Dagegen müsste die Steuerung viel stärker am Telefon erfolgen. "Nicht der Laie muss wissen, wohin er sich wenden soll, sondern eine qualifizierte Kraft am Telefon muss die optimalen Antworten parat haben", sagt er. Aus den Rettungsleitstellen könnten Gesundheitsleitstellen werden, regt Chwojka an, wie in Österreich. Die leisten Hilfestellung bei kleinen Wehwehchen, bis hin zur Wiederbelebung.

Auch beim Rettungsdienst kann angesetzt werden. Prinzipiell finde Notfallmedizin nicht allein in den Notaufnahmen statt, sagt Andreas Krahl, Landtagsabgeordneter der bayerischen Grünen im Gespräch mit der AZ. Krahl hat selbst schon als Pflegekraft und Rettungssanitäter gearbeitet.  "Den Rettungsdienst muss man immer mitdenken." Der sei nicht dazu da, einfach Patienten irgendwohin zu transportieren, sondern auch um die Patienten zu stabilisieren. "Das unmittelbare Lebenretten, das muss im Rettungsdienst stattfinden", sagt Krahl. 

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Allerdings findet es dort oft gar nicht statt, eben weil es in minderschweren Fällen gar nicht nötig ist. Im Einsatz gebunden sind die Kräfte dann trotzdem. Nur ein Transport wird bezahlt, ein falscher Anreiz, findet Christof Chwojka. "Dabei verlagert das ja nur das Problem von daheim in ein Krankenhaus." Das liegt daran, dass es sich bei der Rettung nicht um eine medizinische Leistung handelt, die im Sozialgesetzbuch hinterlegt wäre. Etwas, das Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) im Rahmen der angestrebten Reform der Notfallmedizin gerne ändern würde.

2020 und 2021 sind die Patientenzahlen in der Notfallversorgung sogar gesunken, vermutlich weil wegen Corona die Hemmschwelle größer war, eine Einrichtung aufzusuchen.
2020 und 2021 sind die Patientenzahlen in der Notfallversorgung sogar gesunken, vermutlich weil wegen Corona die Hemmschwelle größer war, eine Einrichtung aufzusuchen. © Zentralinstitut Kassenärztliche Versorgung

Der Rettungsdienst steuert im Zweifel lieber die Klinik an

Und auch die Kompetenzen des Rettungsdienstes würden nicht ausgeschöpft, sagt Andreas Krahl. Beispielsweise dürfe bei extremem Bluthochdruck etwa ein Sanitäter in Hessen ein Medikament verabreichen. In Bayern müsste dafür ein Notarzt angefordert werden, was wiederum Personal bindet. "Als Rettungsdienst habe ich dann gar keine andere Möglichkeit, als Menschen in die Notaufnahme zu fahren", sagt Krahl. "Was sie können, dürfen sie nicht", sagt Chwojka. Auch ein Grund, im Zweifelsfall lieber die Klinik anzusteuern.

Ein weiterer Hebel wäre bessere digitale Dokumentation, also eine digitale Akte, auf die verschiedene Stellen Zugriff haben. Wer am Telefon zum Facharzt verwiesen wurde, kann somit nicht eine halbe Stunde später in der Notaufnahme auftauchen. In Dänemark ist die telefonische Ersteinschätzung sogar verpflichtend.

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Grünenpolitiker Krahl für Einsatz des Telenotarztes

Grünenpolitiker Krahl regt auch den verstärkten Einsatz des Telenotarztes an. "Das ist als großes Prestigeprojekt angekündigt worden, aber aktuell haben wir davon flächendeckend überhaupt keinen Mehrwert", sagt er. So sei ein einzelner Notarzt nicht in einem Einsatz gebunden, sondern könne aus der Ferne medizinische Einschätzungen abgeben. Allerdings fehlt es ohnehin am Personal, dazu ist in Bayern die Verbindung für Videocalls nicht immer gegeben. "Wir haben nicht mal die Voraussetzungen, ein schlecht gemachtes System überhaupt zu verwenden", sagt er.

Notfallmedizin müsse sich dem Zeitgeist gemäßer aufstellen, sagt Chwojka. Einen Notruf sollte man eigentlich nicht nur telefonisch absetzen können, "das muss theoretisch auch über Instagram, Whatsapp oder – für uns Alten – auch auf Facebook funktionieren". Überspitzt gesagt: "Ich muss der Leitstelle was vortanzen können auf Tiktok und die muss drauf reagieren." Ein Teil der Beratungstätigkeit ließe sich zudem automatisieren, oder auch EKG-Befunde maschinell auswerten. Das könnte Ressourcen sparen und im Zweifelsfall könnte immer noch ein Mensch darüberschauen. "All das nutzen wir doch im normalen Leben auch", sagt Chwojka. "Warum nutzen wir es nicht für unsere Gesundheit?"

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8 Kommentare
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  • Remuc72 am 05.05.2024 19:20 Uhr / Bewertung:

    Ich habe selbst schon erfahren, dass viele Lappalien in der Notaufnahme sind und Notfälle desswegen warten müssen. Ich würde ein sogenannter Empfang mit Fachpersonal vorschlagen, der eine Triage vornimmt und kleine Aua's wieder weg schickt.

  • FFF-Nein Danke am 05.05.2024 18:12 Uhr / Bewertung:

    Wenn man einen Facharzt Termin erst in XX Wochen bekommt, dann geht man in die Notaufnahme.

  • FRUSTI13 am 05.05.2024 21:37 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von FFF-Nein Danke

    Auch dann nicht, wenn es kein Notfall ist!

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