Nachtwächterin in Berchtesgaden: Mit Hut und Hellebarde

Seltene Leidenschaft: Seit mehr als 20 Jahren schlüpft Anna Glossner in die Rolle der Nachtwächterin von Berchtesgaden.
von  Kilian Pfeiffer
In der Montur des Landsknechts: Seit mehr als 20 Jahren ist Anna Glossner als Nachtwächterin in Berchtesgaden unterwegs.
In der Montur des Landsknechts: Seit mehr als 20 Jahren ist Anna Glossner als Nachtwächterin in Berchtesgaden unterwegs. © Kilian Pfeiffer

Berchtesgaden - "Bis mich der Herrgott von der Straße nimmt" - so lange noch will Anna Glossner in der Rolle als historische Nachtwächterin über Berchtesgadens Geschichte berichten. Als echtes Unikat ist sie in ihrer Gewandung stadtbekannt. Erst nach einem schweren Autounfall erfüllte sie sich ihren Traum von den "Geschichten über die Geschichte."

Gotische Spitzbogen, historische Schränke und geschnitzte Figuren

Das Nachtwächterstüberl im Herzen des Ortes ist ein beschaulicher Platz hinter dicken Mauern. Einst gehörte es zu Berchtesgadens Schloss. Bis Anna Glossner es übernahm, war ein Schuster zur Miete. Jahrhundertealt ist das Gebäude im Zentrum des Marktes: gotische Spitzbogentüren, historische Schränke, geschnitzte Figuren umgeben das kleine Reich von Glossner. Hier fühlt sich die 74-Jährige sichtlich wohl.

Das Haus ist der Ausgangspunkt einer ganz besonderen Leidenschaft, die die aus Schwindkirchen bei Dorfen stammende Wahl-Berchtesgadenerin betreibt: ein Dasein als historische Nachtwächterin.

Den Beruf gibt es schon lange nicht mehr. Die Aufgaben eines Nachtwächters waren zwar überschaubar, aber wichtig: Stunden ausrufen, nach Feuer Ausschau halten, Sperrstundenkontrollen in den örtlichen Wirtshäusern durchführen. "Nachtwächter mussten achtgeben, dass die Bürgerschaft vor dem Lumpengesindel geschützt war", erzählt Glossner. Bis sie das erste Mal in die ungewöhnliche Rolle schlüpfte, vergingen 50 Jahre.

"Das Alte hat mich seit früher Jugend interessiert"

"Ich bin ein echtes Bauerndirndl", sagt Anna Glossner. Eingebunden in Arbeit verbrachte sie ihre Jugend: "Wenn andere zum Schwimmen gingen, musste ich am Steinberger Hof helfen." Archäologin wollte sie gerne werden, "das Alte hat mich seit früher Jugend interessiert." Verwandte holten sie als Kindermädchen nach Übersee. Mit 16 Jahren lernte sie bei einem sonntäglichen Spaziergang ihren späteren Mann Rudi kennen, einen gebürtigen Reichenhaller, "meine große Liebe", sagt sie.

Den Eltern, echten Bauersleut, war das gar nicht recht: "Er hatte ja nichts vorzuweisen." Er war Handwerker, liebte die Bauernmöbelmalerei und wollte Kirchenmaler werden. Anna wurde mit 17 schwanger, heiratete früh. Die Mutter war geknickt, Mitgift bekam die junge Frau keine. "Wir haben armselig angefangen", sagt Glossner heute. Trotz allem war es die Basis für ein gemeinsames Leben.

Anna Glossner sitzt an einem kalten Wintertag an ihrem Tisch im Nachtwächterstüberl. Aus dem Schrank hat sie einen Umschlag gekramt, ein Packen Papier, Dutzende beschriftete Seiten sind es. Mit rotem Kuli hat sie sich darauf Notizen gemacht. Es ist die Vorlage für ein Buch, das sie seit langem plant, aber immer wieder nach hinten verschoben hat.

"Mein Mann und ich lieben das Mittelalter"

Das Leben von Anna Glossner ist ein bewegtes. Hätte sie es sich aussuchen können, hätte sie wohl in einer anderen Zeit gelebt: "Mein Mann und ich lieben das Mittelalter", sagt die 74-Jährige. Nicht nur das Nachtwächterstüberl blickt auf eine lange Vergangenheit zurück. Selbst das Privathaus der Glossners ist mehr als 400 Jahre alt, ausgestattet wie ein Museum. Ihr ganzes Leben haben Anna und ihr Mann mit Antiquitäten gehandelt, sie hatten Antikläden in Bad Reichenhall und Berchtesgaden.

Wo sie auf alte Möbel und Gegenstände stießen, schlugen sie zu. "Mein Mann restaurierte am liebsten bäuerliche Volkskunst", sagt Glossner.

Die Antikläden betrieben sie zusammen, das Interesse an der Geschichte wuchs. In den 1990er-Jahren gründete ihr Mann einen Ritterbund. In einem der ältesten Häuser Berchtesgadens, im Kanzlerhaus, entstanden Ausstellungsräume für die mittelalterliche Sammlung der Glossners, Rittersaal und Ritteressen inklusive. Mittelalterfeste staffierten die Glossners mit ans Original angelehnter Kleidung aus.

Vor der 900-Jahr-Feier von Berchtesgaden kommt ihr die Idee

Als Glossner 50 Jahre alt war, hatte sie einen schweren Autounfall. Das Fahrzeug überschlug sich mehrfach. Drei Nackenwirbel waren angebrochen. Ihr Zustand sei kritisch gewesen, sagt sie. Mehrere Wochen verbrachte sie in der Klinik. "Es waren furchtbare Tage. Ich hatte sehr viel Zeit, nachzudenken." Aber: "Der Herrgott hatte noch etwas mit mir vor", sagt die gläubige Christin rückblickend. Der Markt Berchtesgaden stand 2002 kurz vor dessen 900-Jahr-Feier. "Und ich hatte die Idee, die Nachtwächter als Geschichtenerzähler im Ort wieder aufleben zu lassen", sagt Glossner.

Der letzte Nachtwächter am Fuße des Watzmanns wird 1921 erwähnt. Für das Jubiläum wäre das doch eine tolle Sache, dachte die
Geschichtsbegeisterte. Nicht alle konnten mit der Idee etwas anfangen. Von der Gemeinde gab es keine Unterstützung, vom damaligen Pfarrer hingegen schon. Den einstigen Berufsstand mit Leben zu erfüllen, das war Anna Glossners Ziel.

"Ich war überglücklich, als ich ein historisches Kostüm eines Landsknechts zum Kauf fand", erinnert sie sich: Mit Pluderhose und Joppe in gleicher Manier fehlten nur noch die Spitzschuhe aus Leder. "Ich büffelte Bücher, widmete mich intensiv der geschichtlichen Lektüre." Zu jedem historischen Haus im Markt von Berchtesgaden benötigte sie den geschichtlichen Hintergrund, lernte Jahreszahlen auswendig. Sie kannte das Nachtwächter-Dasein bereits aus anderen Orten. Bei der Polizei wurde sie vorstellig, weil sie eine Hellebarde, eine Mischform aus Stich- und Hiebwaffe, aus dem Ritterfundus ihres Mannes mitführen wollte.

Die Nachtwächterin blick auf hunderte Führungen zurück

"Meine Montur fand große Aufmerksamkeit", sagt Glossner. 25 Personen waren bei ihrer ersten Führung dabei, begleitet von gregorianischer Musik. Weil ihre Stimme nicht so kräftig ist, schaffte sie sich schon bald einen Lautsprecher an. "Damit mich auch alle verstehen", sagt sie. Seitdem startet sie während der Sommermonate wöchentlich, mit Laterne und Rufhorn ausgerüstet, auf ihre geschichtliche Exkursion durch den Markt. Auf hunderte Führungen blickt die ausgebildete Gästeführerin zurück. Die größte war eine 70 Mann umfassende Kompanie der Bundeswehr.

Im Laufe der Zeit ist viel zusammengekommen: Vertreter der königlichen Familie der Wittelsbacher hat sie begleitet, Prominente, Sportler und Politiker sowie Tausende Urlaubsgäste. "Mir sind alle gleich lieb", sagt sie - und sie will weitermachen, solange ihre Füße sie tragen.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.