Mörder im Arztkittel
München/Kaufbeuren Ernst Lossa ist erst zwölf Jahre alt, als eine Krankenschwester Gift in seinen Körper spritzt. Zwei Ärzte stehen daneben, sie sagen, dass sie ihn gegen Typhus impfen. In Wahrheit fließt eine Überdosis Morphium-Scopolamin ins Blut des Kindes. Das Gift tötet den Buben. Seine Mörder sind Ärzte der „Heil- und Pflegeanstalt“ Kaufbeuren-Irrsee. Es ist der 9. August 1944.
Ernst Lossa ist ein Opfer der „wilden Euthanasie“, der zweiten Welle der Kranken- und Behindertentötungen der Nationalsozialisten im Dritten Reich. Im Gegensatz zur systematischen „Aktion T4“, bei der 70000 geistig und körperlich behinderte Menschen ermordet wurden, war die „wilde Euthanasie“ nicht zentral organisiert. Stattdessen quälten Ärzte und Pfleger in Kliniken die kranken Menschen zu Tode. Ihr Vorwand: Sparzwang.
Herbst 1942, die Krankenhäuser sind voll mit Kriegsverletzten. Alte und Kranke werden in die Heilanstalten verlegt, so dass auch dort der Platz knapp wird. Bei einem Treffen diskutieren die Leiter der Anstalten deshalb, wie sie sparen können. Während des Gesprächs wird das Sparen zum Vorwand für einen grausamen Massenmord. Es ist die Idee zweier bayerischer Ärzte: Valentin Faltlhauser, Leiter der Anstalt Kaufbeuren-Irrsee und Herrmann Pfannenmüller, Chef in Eglfing-Haar. Sie wollen die Kollegen überzeugen, die „nutzlosen“ Patienten auszusortieren.
„Wenn der Gärtner im Frühjahr seinen Garten und seine Bäume richtet, nimmt er das Dürre weg“, sagt Pfannenmüller. Faltlhauser meint, es sei nur barmherzig, die „unglücklichen Geschöpfe“ von ihren Leiden zu befreien. Dann schlägt Faltlhauser sein Konzept der „E-Kost“ vor, ein Speiseplan, bei dem die Patienten langsam verhungern. Die anderen Anstaltsleiter zögern. Sie wollen Anweisungen.
Die kommen am 30. November 1942 schriftlich vom Ministerialdirektor. Der „Hungererlass“ erlaubt, „nutzbringende“ Menschen, „bildungsfähige“ Kinder und verwundete Soldaten zu Lasten der anderen Insassen besser zu verpflegen. Das Todesurteil für fast 200000 Menschen in Deutschland. Der 12-jährige Ernst Lossa war nicht krank, galt aber als „unerziehbar“. Das Waisenkind aus Augsburg - seine Mutter starb früh, sein jenischer Vater wurde im KZ ermordet - war in einem Heim untergebracht. Dort soll er gestohlen haben.
Seine Betreuer lassen ein psychiatrisches Gutachten anfertigen und weisen ihn als „völlig willenlosen, haltlosen, fast durchschnittlich begabten, triebhaften Psychopathen“ in die Heilanstalt Kaufbeuren-Irrsee ein. Dort bleibt der Junge aufmüpfig, stiehlt Äpfel aus der Vorratskammer und gibt sie den ausgehungerten Patienten. Er will sie vor dem Hungertod retten. Deshalb wird er selbst ermordet. Der kleine Junge wollte das System stören, mit dem die Nazis die Kranken töteten.
Wie die Patienten verhungerten, zeigt die Krankenakte von Wilhelm Lutter. Zuerst wurde seine „Arbeitsleistung“ beurteilt. Im Bericht steht: „Beschäftigt sich etwas“. Wenig später heisst es: „Sitzt den ganzen Tag untätig auf seinem Platz.“ Schließlich: „Deutlich zunehmende Demenz. Leistet nichts“. Wilhelm Lutter ist für die Nazis ein Nichtsnutz. Sein Todesurteil.
Im September 1943 wird Lutter in die Anstalt Kaufbeuren-Irrsee eingewiesen, er wiegt knapp 60 Kilo. Er bekommt „E-Kost“, das heißt mittags und abends eine kleine Portion Essen, entweder Blaukraut, Weißkraut, gelbe Rüben oder Kartoffeln. Manchmal kriegt er viel Essen. Ein Pfleger sagt später: „Die E-Köstler mussten einerseits schwer Hunger leiden, bekamen aber andererseits plötzlich wieder den Magen überfüllt.“ Er vermutete daher „ein bestimmtes System“, das die Kranken töten sollte. Unternommen hat er nichts.
Im Dezember 1944 wiegt der 51-jährige Wilhelm Lutter nur noch 37 Kilo. Er stirbt. Nach dem Krieg decken die Amerikaner die grausigen Verbrechen auf, die Verantwortlichen werden verurteilt. Doch die Strafen sind milde. So wird Anstaltsleiter Faltlhauser zu drei Jahren Haft verurteilt, später begnadigt. Viele Täter kommen davon. Bald wird es still um die Anstalten - und jahrzehntelang geschwiegen.
Bis Anfang der 80er Jahre eine junge Generation die Führung der Kliniken übernahm. Endlich setzte man sich mit dem Leid der Euthanasie-Opfer wie Ernst Lossa auseinander, erinnerte an sie, schuf Denkmäler. Nicht alles wurde aufgearbeitet.
1949 verhandelte das OLG Frankfurt über die Morde am Kinderkrankenhaus Rothenburgsort. Es spricht die Angeklagten frei. Im Urteil steht, dass „die Abkürzung völlig sinnlosen Lebens“ nicht unbedingt unmoralisch sei. Das hätten auch die alten Griechen schon gemacht. 1961 lehnte das Gericht eine Wiederaufnahme des Verfahrens ab. Das Urteil ist bis heute rechtskräftig.
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