Meuterei zur Weihnachtszeit
Draußen vor der Tür: Matthias Egersdörfers Kindheitserinnerungen an den Heiligen Abend
"Es dauerte immer unanständig lange bis zum Vierundzwanzigsten. Es war dunkel und kalt, und das drückte offensichtlich auch so schwer auf die Zeit, dass Minuten, Stunden und Tage einfach doppelt oder dreimal so lange brauchten wie sonst. Ein paar Tage vor Weihnachten wurde das Wohnzimmer dann immer für den normalen Publikumsverkehr geschlossen. Das heißt, ich durfte es nicht mehr betreten. Also saß ich davor, schaute auf die Wohnzimmertür und überlegte, was wohl dahinter sein könnte.
Manchmal schaute ich auch durch das Schlüsselloch der Wohnzimmertür. Und manchmal ging einer von der Familie rein, und noch bevor ich irgendetwas sehen konnte, hatte derjenige die Tür ganz schnell wieder hinter sich zugezogen. Einen Großteil der Vorweihnachtszeit verbrachte ich vor der Wohnzimmertür. Wenn meine Großmutter vorbeikam, gab sie mir den Rat, ich solle nicht die ganze Zeit vor der Tür sitzen. Womöglich würde ich mich noch im Gang verkühlen. Außerdem sei das doch nicht interessant, die ganze Zeit eine weiße Tür anzuschauen.
Ab und zu kam auch eine von meinen Schwestern vorbei. Die durften auch in das Zimmer, und ich versuchte, von ihnen etwas herauszubekommen. Sie setzten sich dann eine kleine Weile neben mich und sagten entweder, dass sie mir nichts verraten dürften, weil ihnen dann die Haare ausfallen würden, oder sie erzählten mir ganz abenteuerliche Geschichten. Zum Beispiel die, dass eine Horde Piraten ins Weihnachtszimmer eingefallen wären. Mutter und Vater müssten ständig Unmengen von Schnaps und Berge von Schnitzeln herbeischaffen, um die Seeräuber zu besänftigen. So, wie es ausschaue, würden die Piraten bis Mai im Weihnachtszimmer bleiben. Ich solle mir gar keine größeren Hoffnungen machen, aber nach dem derzeitigen Stand der Dinge falle das Weihnachtsfest bestimmt aus.
Nach so einer Geschichte lachten sie kurz und verschwanden. Und ich saß wieder allein vor der Tür – und wartete auf Weihnachten."
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