"Max, sarge mich bitte schön ein"

Ernst Lossa ist mit 14 in Irsee von den Nazis ermordet worden. Robert Domes hat sein Leben aufgeschrieben – die AZ hat ihn besucht.
von  Von Roberta De Righi
In der "Heil- und Pflege-Anstalt" wurden 2300 Menschen ermordet. Auch Ernst Lossa (kleines Foto). Es ist das einzige Foto von ihm, das exisitiert.
In der "Heil- und Pflege-Anstalt" wurden 2300 Menschen ermordet. Auch Ernst Lossa (kleines Foto). Es ist das einzige Foto von ihm, das exisitiert. © AZ

Anna Brieger, 39 Jahre, Diagnose: „Schizophrenie“, ermordet am 13. Dezember 1944 durch eine Überdosis Schlaf- oder Beruhigungsmittel. Josef Gleixner, Diagnose: „Wasserkopf“, 4 Jahre, gestorben am 27. November 1944 an Lungenentzündung. Ernst Lossa, 14 Jahre, Diagnose: „asozialer Psychopath“, ermordet am 9. August 1944 durch eine tödliche Dosis Morphium-Scopolamin. Heute erinnern Stolpersteine an diese drei Toten. Doch die Liste der weiteren Opfer, deren Leben den Nazis als „unwert“ galt, ist beklemmend lang.

Insgesamt wurden nach dem NS-Euthanasieerlass vom 1. September 1939 in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee 2100 Menschen in die Gaskammer geschickt, durch so genannte „Hungerkost“ oder Todesspritzen ermordet; darunter 250 Kinder.

Die psychiatrische Anstalt in der einstigen Benediktinerabtei Irsee existierte bis 1972. Heute ist hier das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketages untergebracht. Und man kommt in eine auf den ersten Blick schmucke Barock-Idylle, der man nicht auf Anhieb sieht, dass sie Schauplatz eines monströsen Verbrechens war.
Der Journalist und Autor Robert Domes, der seit zehn Jahren selbst in Irsee lebt, kann allerdings über die schreckliche Vergangenheit dieses Ortes packend und detailreich erzählen.

Der Film zum Fall startet am Donnerstag

Er war es auch, der in fünf Jahren Archivarbeit die Lebensgeschichte des Ernst Lossa recherchierte und sie anschließend aufschrieb. Der Psychiater Michael von Cranach, 1980 bis 2006 Direktor in Kaufbeuren, hatte die Akte schon lange auf dem Schreibtisch liegen und sie Domes in die Hand gedrückt. Es war der klare, wache Blick des Buben auf dem Foto, der beide nicht mehr losließ.
Robert Domes‘ Jugendbuch „Nebel im August – Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa“ (ab 13 Jahren, erschienen bei cbt, 349 Seiten, Euro 7,95) ist die Vorlage für den gleichnamigen Film, der heute im Kino anläuft.

„Ich wollte auf keinen Fall eine Täterbiografie schreiben“, so Domes. Darum schildert er das unfassbare Geschehen aus der Perspektive des Heranwachsenden. Er stammte aus einer Familie von „Jenischen“, die von den Nazis ebenso wie Angehörige der Sinti und Roma als „arbeitscheu“ und „asozial“ stigmatisiert und verfolgt wurden. Nach dem Tod der Mutter steckten die Nazis den Buben, der in der Schule einige Diebstähle begangen hatte, in Augsburg ins Heim. 1940 kam er, als „unerziehbar“ geltend, nach Indersdorf, 1942 wurde er zunächst nach Kaufbeuren verlegt, im Mai 1943 schließlich in die Zweiganstalt Irsee.

Ernst Lossa wird in seiner Akte als „renitent“ und „gewalttätig“ bezeichnet, aber nach heutigen Maßstäben, erklärt Domes, gälte er wohl nicht einmal als schwer erziehbar. Viele der Schwestern und Pfleger beschrieben ihn auch als „liebenswerten, anhänglichen, hilfsbereiten“ Buben. Dass er nach Irsee verlegt wurde, war sogar nach NS-Maßstäben ein Unding, denn hierher kamen die Schwerkranken und Schwächsten. Ernst Lossa aber galt als „arbeitsfähig“, mit ihm, so Domes, „wurde quasi der Fitteste abgeschoben“.

Ein Ort, an dem die grausame Realität erschütternd anschaulich wird.

„Er war halt ein Lausbub und schon auch ein Schlitzohr.“ Ernst besorgte sich den Schlüssel zum Vorratskeller, stahl Äpfel – und verkaufte sie an seine Mitpatienten. „Hunger hatten hier ja alle immer“, so Domes.
Wer um Kloster und Kirche herumgeht, sieht den Anstaltsfriedhof, auf dem heute kein einziges Grab mehr zu erkennen ist, aber immerhin ein Mahnmal an die Opfer erinnert. Und man stößt auf einen unscheinbaren, verschlossenen Bau – die so genannte Prosektur. Hier wurden die Toten von Irsee seziert und ihnen Organe, oft auch das Gehirn, entnommen. Der Raum, der heute als Gedenkstätte fungiert, war lange Zeit „vergessen“, bzw. niemand wollte sich mehr erinnern, was darin stattgefunden hatte. Erst Anfang der 80er Jahre wurde er wiederentdeckt. Und ist seither so belassen, wie man ihn vorgefunden hatte: Es ist ein Ort, an dem die grausame Realität erschütternd anschaulich wird.

Ernst Lossa, so schildert Domes, kannte diesen Totenraum, ging dem Pfleger Max Ries zu Hand, der zu Ernst ein vaterähnliches Verhältnis aufgebaut hatte. Mehrfach hatte der Bube wohl auch in den Krankenzimmern die Verabreichung von Spritzen und das Sterben der Mitpatienten beobachtet. Am Tag vor seinem Tod gab der Bub Max Ries ein Foto von sich mit den Worten, er selbst werde auch bald sterben und er, Max, möge ihn bitte „schön einsargen“.

Verantwortlich für den vielfachen Tod in Kaufbeuren-Irsee war der Psychiater Dr. Valentin Faltlhauser, der seit 1929 die Anstalt leitete. Er hatte seine Karriere als Reformpsychiater begonnen, der sich für die „offene Fürsorge“ und zunächst gegen Euthanasie und Zwangssterilisationen aussprach.

Doch er vollzog eine krasse Wende, wurde zum skrupellosen Vollstrecker der NS-Ideologie und, wie Michael von Cranach erläutert, Ende August 1940 als einer der letzten zum „T4-Gutachter“ berufen, der über „unwertes Leben“ urteilte. Insgesamt wurden während des Dritten Reiches 200 000 als psychisch und körperlich krank oder behindert geltende Menschen umgebracht.
Faltlhauser schickte zwischen September 1940 und August 1941 in den so genannten „T4-Aktionen“ 640 seiner Schützlinge in die Gaskammer. Immer 70 Patienten wurden in zwei grauen Bussen nach Grafeneck in Württemberg oder Hartheim bei Linz gebracht.
Bald wusste jede der Schwestern, alle Pfleger und Patienten, was hier geschah. Faltlhauser, so von Cranach, forderte von Berlin „in Tötung erfahrenes Personal“.

Dr. Faltlhauser– der Erfinder der „Hungerkost“

Dann änderte sich die Mord-Methode: Faltlhauser war der „Erfinder“ der „Hungerkost“, einer dünnen Suppe – nährstofffrei, vitaminfrei, fettfrei – die ab 1942 den Patienten verabreicht wurde und dafür sorgte, dass sie binnen Wochen an den Folgen von Unterernährung starben. Typische Todesursachen, die den Verwandten der Verstorbenen anschließend attestiert wurden: Lungenentzündung, Herzschwäche. In der von Magdalene Heuvelmann 2015 herausgegebenen Bearbeitung des „Irseer Totenbuchs. Chronologisches Toten-Register der Heil- und Pflegeanstalt Irsee 1849-1950“ sind sie alle verzeichnet.

Mit dem „Hunger-Erlass“ des Bayerischen Innenministeriums 1942 wurde diese Methode bayernweit durchgesetzt: So starben etwa in Eglfing-Haar 1800 Patienten bis 1945 durch gezielte Unterernährung, darunter 332 Kinder. In Mainkofen 780 Patienten.

Ernst Lossas Akte spielte bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen eine wichtige Rolle. Dennoch kamen viele Täter mit geringen Strafen oder gar straffrei davon. Michael von Cranach sagt, es habe vor Gericht erstaunlich gut funktioniert, zu behaupten: „Davon habe ich nichts mitgekriegt“.

Die „Todesschwester“ Pauline Kneissler, die auch bei Ernst Lossa die Spritze gesetzt hatte, wurde für ihre Taten in Irsee und anderen Anstalten zu vier Jahren Haft verurteilt. Faltlhauser erhielt für die „Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag“ drei Jahre Haft. 16 Monate Internierungslager wurde angerechnet, die Reststrafe erlassen. Er starb 1961 in München.

Bis heute sind nicht alle Opferschicksale geklärt. Im Münchner NS-Dokumentationszentrum gibt es regelmäßige Treffen der Arbeitsgemeinschaft „Psychiatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus“ für suchende Angehörige. Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa ist auch ein Appell, die unzähligen anderen Opfer der NS-Euthanasie nicht zu vergessen.

 

 

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