Martin Bormann: Ein Toter wurde zum Tod verurteilt
AZ-Serie: Der Sekretär des „Führers“ starb vermutlich im Bombenhagel in Berlin. Trotzdem ranken sich wilde Spekulationen um den „Mann ohne Gesicht“.
NÜRNBERG Tod durch den Strang. Elfmal verkündeten die Richter des Internationalen Militärgerichtshofs die Todesstrafe. Vollstreckt wurde sie jedoch nur neunmal. Hermann Göring, der höchstrangige Repräsentant des Nazi-Deutschland auf der Anklagebank, hatte wenige Stunden vor der Hinrichtung Selbstmord verübt. Und Martin Bormann, als Chef der NSDAP-Parteikanzlei und persönlicher Sekretär Hitlers der wohl zweitmächtigste Mann des Nazi-Regimes, wurde in Abwesenheit verurteilt. Die „special agents“ der Siegermächte hatten seine Spur in den Wirren des kollabierenden Dritten Reichs verloren.
Der kollektive Gedächtnisschwund der Deutschen, der nach dem Zusammenbruch des „1000-jährigen Reichs“ ungeahnte Ausmaße annahm, war nicht dafür verantwortlich, dass Martin Bormann für die Öffentlichkeit ein „Mann ohne Gesicht“ war. Er arbeitete zwar an der Schnittstelle der Macht, aber gleichermaßen diskret wie wirkungsvoll. Wer direkten Zugang zum „Führer“ wollte, kam an ihm nicht vorbei. Seine Rolle beschrieb Hermann Göring bei den „Nürnberger Prozessen“ so: „Den entscheidenden Einfluss auf die Person des Führers hatte Herr Bormann.“ Drastischer formulierte es Hans Fritsche, ranghöchster Vertreter des NS-Propagandaministeriums unter den Angeklagten: „Sogar Goebbels hatte Angst vor ihm.“
Reichsjugendführer Arthur Axmann kolportierte schon unmittelbar nach Ende des Krieges, dass Martin Bormann nicht mehr am Leben sei. In Berlin, so seine Aussage, habe er dessen Leiche und die von SS-Standartenführer und Begleitarzt Hitlers, Ludwig Stumpfenegger, mit eigenen Augen gesehen.
Als sichere Quelle wurde Axmann nicht akzeptiert. Zu undurchsichtig war die Gerüchteküche in Zusammenhang mit Bormanns plötzlichem Verschwinden. Standhaft hielten sich nämlich auch Hinweise darauf, dass es dem Sekretär des „Führers“ gelungen war, sich nach Südamerika abzusetzen. Noch heute wird Neugierigen in Paraguay ein halb verfallenes Gebäude gezeigt, in dem Bormann Unterschlupf gefunden haben soll.
Bormann als KGB-Spion?
Mehr als 30 Jahre nach dem Krieg warf der Fund zweier Skelette auf einer Baustelle in Berlin alle Gerüchte, dass Bormann noch leben könnte, über den Haufen. Man war sich sicher, dass es sich in einem Fall um die Überreste von Hitlers Sekretär handelt. Dem pflichtete noch einmal ein Vierteljahrhundert später der Münchner Gerichtsmediziner Wolfgang Eisenmenger bei. Eine von ihm vorgenommene DNA-Analyse des Knochenfunds sei eindeutig.
Vollends kompliziert wurde der Fall durch eine Veröffentlichung in einer Moskauer Zeitung. Dort meldete sich 1994 ein Exagent des sowjetischen Geheimdienstes KGB namens Tartarowskij zu Wort. Er versicherte, dass Bormann in die Sowjetunion entkommen und sein geheimdienstlicher Mitarbeiter gewesen sei. Unabhängig von ihm behauptete dies auch Reinhard Gehlen, der für Hitler spioniert hatte, und nach dem Krieg Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND) wurde.
Was ist Wahrheit, was Lüge? Eine verlässliche Antwort hätte womöglich der 1996 verstorbene Schweizer Finanzfachmann Francois Genoud liefern können, der als Doppelagent für den Osten und den Westen arbeitete. Doch der nahm das Geheimnis mit ins Grab. Genoud war als „schwarzer Bankier“ verschrien, weil er bis zum Ende seines Lebens tief in den internationalen Terrorismus verstrickt war. Außerdem gelangte er auf ungeklärte Weise in den Besitz von Bormanns persönlichen Aufzeichnungen – und er hatte Kontakte zu Geheimdienstlern, die mit Bormann zu tun hatten und das Dritte Reich schadlos überstanden.
Einer aus diesem Dunstkreis war SS-Untersturmführer Paul Dickopf, ein enger Freund des Terror-Finanziers Genoud. Er tauchte 1943 in der Schweiz auf, bediente zwar weiterhin Bormanns Parteikanzlei mit Informationen, schaffte es aber gleichzeitig, als Widerstandskämpfer dazustehen. Das ermöglichte dem SS-Mann eine steile Nachkriegs-Karriere. Er baute das Bundeskriminalamt (BKA) mit auf, war dessen Chef (1965 - 1971) und danach auch noch Deutschland-Chef von Interpol. Bei seinem Ausscheiden lobte ihn Hans-Dietrich Genscher als einen Mann, der nie etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun hatte. Heute wirkt dieser Satz befremdlich.
Helmut Reister