Man möcht’ ja gern fliegen
NÜRNBERG - Wie die ehemalige Nürnberger „Tanzwerk“-Chefin mit „Des Kaiser neue Kleider“ nach elf Jahren von Avantgarde und Musical zum Märchen-Ballett zurückkehrt: Jean Reanshaw im AZ-Interview.
Der Solotänzer trat an die Rampe, fixierte tausend Besucher mit einem amüsierten Blick und hatte das ganze Opernhaus in Nullkommanichts zum Mitgesangverein gemacht: Vier Kinder waren da im Refrain zu würdigen „Der Frühling, der Sommer, der Herbst und der Winter“. Jean Renshaws Märchenballett von den „Vier Jahreszeiten“ dürfte die erfolgreichste Produktion ihrer Zeit als Nürnberger „Tanzwerk"-Chefin gewesen sein. Elf Jahre ist das her – und mancher der herangewachsenen, damals durchweg euphorischen Besucher wird auch jetzt die Eltern an die Hand nehmen. Denn nun greift die frei schaffende Choreographin, die neben Musicals zuletzt in Trier die Piaf-Legende in Bewegung setzte und im Fürther Kulturforum mit der Tanz-Satire „Könige“ einen Volltreffer landete, wieder zum Märchenbuch – und steigt in der Hierarchie der gekrönten Häupter ein Treppchen weiter. Mit der eigenen Fassung von „Des Kaisers neue Kleider“ nach Hans Christian Andersen (die Story vom eitlen Herrscher, der sich unsichtbare Designerklamotten aufschwatzen lässt und in Unterhosen vors Volk tritt) und erweiterter Musik des Franzosen Jean Francaix hat sie morgen, 18 Uhr, im Fürther Stadttheater Uraufführung - „für Kinder ab 5 und Erwachsene“.
AZ: Frau Renshaw, Sie haben neben modernen Tanzstücken etliche Musicals inszeniert. Da wirkt die Rückkehr zum Märchen fast verwunderlich. Was reizt Sie daran?
JEAN RENSHAW: Dass hier etwas wunderbar zusammenpasst. Es sollte unser besonderes Anliegen sein, die jungen und jüngsten Zuschauer für die Kunst zu gewinnen, und da ist der Tanz mit seiner sehr klaren, direkten Sprache besonders geeignet.
War für Sie in Fürth erst diese Vorlage da oder zunächst die Planstelle „Familienstück“ zur Vorweihnacht?
Letzteres, und dann haben wir gesucht. Allerdings hatte ich schon in Nürnberg über die Märchen-Komposition von Francaix nachgedacht – aber damals gab es keine Aufnahme davon, und die Musik dauert auch nur 30 Minuten. Jetzt bin ich auf eine Einspielung gestoßen und auf weitere Ballettmusik, die er erst 13 Jahre später zu einer anderen Geschichte komponiert hat. Zusammengenommen machen wir daraus unser eigenes Stück.
Musik von 1935 und 1948, ein erst 1997 verstorbener Komponist - in der Oper würde man das „modern“ nennen...
Es klingt rhythmisch brisant und sehr humorvoll. Man hört natürlich die Anlehnung an Strawinsky, aber noch viel mehr die Geistesverwandtschaft mit Satie und Milhaud. Es hat diese besondere französische Leichtigkeit und einen umwerfenden Charme.
Sie wollten die Geschichte aber anders erzählen als der Komponist – warum?
Ich habe das Libretto völlig neu geschrieben und eine Love-Story, die damals wohl für die Erwachsenen dazu erfunden wurde, wieder komplett rausgeschmissen. Ich wollte zurück zum Kern der Story.
Jedes Märchen hinterlässt Botschaften. Welche haben Sie denn gefunden?
Eine Warnung vor Autoritäten. Das passt doch bestens in unsere Zeit, wo dauernd große Figuren aufgebaut und für unantastbar erklärt werden. Die Zuschauer sollen sehen, dass sie ihren kritischen Blick auf alles, was von oben kommt, bewahren müssen. Das ist doch eine nützliche Moral grade für Kinder.
Finden das die Lehrer auch?
(Gelächter) Wir werden sehen!
In diesem Märchen sind die Erwachsenen so obrigkeitshörig, dass sie auch den Kaiser in Unterhosen akzeptieren. Nur ein Kind sagt, was los ist. In welcher Position ist der Zuschauer - lacht er aus der Distanz?
Das Publikum ist das Kind, das allein die Wahrheit sagt. Deshalb breche ich auch die vierte Wand auf, damit die Verbindung hergestellt wird. Die anderen Bühnenfiguren sind alle zwielichtig, gefangen in ihrer Dummheit und Eitelkeit.
Was in der Regel dankbare Anlässe für Späße bringt...
Na klar, da muss man einfach Slapstick machen. Es ist beim Tanzen immer so: Man möcht’ ja gern fliegen, hat aber Grenzen – und aus dieser Beschränkung kommen überraschende Ideen. Das führt in diesem Fall zur fröhlichen Anarchie.
Gibt es für Sie Unterschiede zwischen dem avantgardistischen Tanztheater und solchem „Familien-Ballett“?
In der Ernsthaftigkeit überhaupt nicht. Aber natürlich muss für Kinder alles verständlich sein. Sagen wir mal so: Kunst ist auch hier das Ziel, aber das Handwerk steht im Vordergrund. Es ist jetzt das vierte Märchenstück mit Tänzern, das ich mache, und es war wieder eine wunderbare Aufgabe.
Und was folgt danach?
Da übernehme ich die Choreografie für die Offenbach-Operette „Pariser Leben“ am Düsseldorfer Schauspielhaus.
Müssen dort die Schauspieler tanzen?
Ja - ist doch schön, oder?
Interview: Dieter Stoll
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