Interview

Ludwig Hartmann plädiert für Betriebsferien über Weihnachten

Der Fraktionschef der Grünen wirft der Staatsregierung beim Klima- und Artenschutz eine "Ja-aber-Politik" vor. Er sagt: Bayern kann mehr. In Sachen Corona hat er mit Blick auf die Feiertage einen Vorschlag.
von  Natalie Kettinger
Flächenfraß-Betrachtung aus der Vogelperspektive: Ludwig Hartmann (rechts) Mitte Oktober bei einem Gleitschirm-Tandemflug am Tegernsee.
Flächenfraß-Betrachtung aus der Vogelperspektive: Ludwig Hartmann (rechts) Mitte Oktober bei einem Gleitschirm-Tandemflug am Tegernsee. © Andreas Gregor

München - Vor seinem Studium (Kommunikationsdesign; 2000 bis 2005 in München) leistete Ludwig Hartmann ein Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) in einem kommunalen Forstbetrieb. Aus dieser Erfahrung heraus sei ihm mir klar geworden, "wie sensibel das Gleichgewicht unserer Natur ist und wie wichtig deshalb ihr Erhalt uns allen sein muss", schreibt er auf seiner Homepage. Der heute 42-Jährige führte von 2005 bis 2008 ein Büro für visuelle Gestaltung in Landsberg,  ehe er 2008 für die Grünen in den bayerischen Landtag einzog.

AZ: Herr Hartmann, vor ziemlich genau einem Jahr wurden in Wuhan die ersten Corona-Fälle bekannt. Mit welchen Gefühlen schauen Sie auf die Zeit seitdem zurück?
LUDWIG HARTMANN: Die Bilder aus Italien zu Jahresbeginn waren bedrückend. Niemand wusste, was da auf uns zukommt. Im Frühjahr kam dann schon Optimismus dazu, weil wir gemerkt haben, dass man mit gewissen Maßnahmen, wenn alle mitmachen, die Kurve schnell nach unten bekommen kann, und wir als Land die erste Welle vergleichsweise gut überstanden haben. Und zuletzt war ich durchaus hoffnungsvoll, weil man es so schnell geschafft hat, einen Impfstoff zu entwickeln, der bereits im Zulassungsverfahren ist. Wichtig dabei ist allerdings, dass nicht nur wir Europäer uns Impfstoff sichern, sondern dass wir auch bereit sind, mit weniger entwickelten Ländern zu teilen. Sie sollen wissen: Aus unseren starken, demokratischen Ländern kommt Hilfe, wenn sie in Not sind.

"Ich könnte mit nur fünf Kontakten an Silvester gut leben"

Momentan ist viel von den Lockerungen über Weihnachten die Rede. Wissen Sie schon, wie Sie feiern?
Noch nicht genau. Aber prinzipiell bin ich über diese Lockerungen ganz froh, weil sie der Realität vieler Familien entsprechen. Ich zum Beispiel habe zwei Brüder. Ohne die Lockerungen hätten wir nicht die Möglichkeit, an Weihnachten zusammen unseren Vater zu besuchen. Soll er dann aussuchen, wer kommen darf? Das wäre doch realitätsfern - übrigens genauso realitätsfern wie die weltfremde Idee des Bundeskanzleramts, Kinder sollen ihre Kontakte auf nur ein anderes Kind begrenzen.

An Silvester soll schon wieder Schluss sein mit den Lockerungen, wie Markus Söder bei einem Ortsbesuch in Passau angedeutet hat. Auch dass der Teil-Lockdown bis 10. Januar fortgesetzt wird, haben die Ministerpräsidenten entschieden, ohne die Parlamente mit einzubeziehen. Ist das der richtige Weg?
Wir alle wollen an Weihnachten unsere Lieben treffen. Dann müssen wir aber auch so ehrlich sein, uns einzugestehen, dass die Infektionszahlen danach wohl hochgehen werden. Insofern ist es durchaus gerechtfertigt, wenn man Silvester etwas bescheidener feiert. Ich könnte gut damit leben, wenn man anstatt zehn nur fünf Kontakte erlaubt.

Ludwig Hartmann, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im bayerischen Landtag. (Archivbild)
Ludwig Hartmann, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im bayerischen Landtag. (Archivbild) © Sven Hoppe/dpa

Hartmann plädiert für Betriebsferien über Weihnachten

Inhaltlich stimmen Sie also überein - aber was sagen Sie als Parlamentarier?
Das Infektionsschutzgesetz sieht Maßnahmen für vier Wochen vor. Das war ja auch der Grund für das Enddatum 20. Dezember und die neuerliche Ministerpräsidentenkonferenz am 15. Dezember. Ich hätte mir gewünscht, dass man dort erstmal Bilanz zieht und nicht vorschnell einfach verlängert. Das wäre seriös, verlässlich, planbar gewesen.

Was erwarten Sie nach dem 10. Januar?
Ich würde lieber über die Zeit vorher nachdenken und die Chance nutzen, die uns Weihnachten heuer bietet: Zwischen dem 24. Dezember und dem 3. Januar haben wir genau drei volle Arbeitstage. Könnten wir unsere großen Unternehmen hier zu Betriebsferien animieren, könnte man Hunderttausende Arbeits-Kontakte elf Tage lang ausschließen. Das wäre sogar ein Tag mehr als die aktuelle Quarantänezeit. Dieses Weihnachtsgeschenk des Kalenders sollten wir ergreifen und auspacken. Da bräuchte es einen deutlichen Appell der Staatsregierung, vielleicht den einen oder anderen Anreiz - aber das muss jetzt schnell gehen! Dann könnten wir den Januar entspannter angehen.

Schutzschirm für Kultur, nicht nur für Unternehmen

Weg von den Angestellten, hin zu den Soloselbstständigen, von denen noch immer Tausende auf Unterstützung warten, während Unternehmen wie die Lufthansa oder TUI mit Milliarden gestützt werden. Können Sie das verstehen?
Überhaupt nicht. Bei der Lufthansa kommt hinzu, dass es viel Geld, aber keinerlei Vorgaben für den ökologischen Bereich gab. Wenn der Staat einspringt, sollte er auch mitreden dürfen. Was die Soloselbstständigen angeht: Da hätte man viel früher einen fiktiven Unternehmerlohn einführen müssen. Wir haben einen Schutzschirm für Unternehmen - genauso brauchen wir einen Schutzschirm für unsere Kultur. Die Kulturschaffenden sind doch faktisch nie aus dem ersten Lockdown rausgekommen. Das zermürbt die Leute und lässt sie verzweifeln. Um ihnen eine Perspektive zu geben, appelliere ich außerdem an die Kommunen, ihre Kultur-Budgets jetzt nicht zu kürzen. Sonst könnte verloren gehen, was uns als Kulturstaat ausmacht.

Themawechsel: Die Grünen haben gerade ihr neues Grundsatzprogramm verabschiedet. Manches darin klingt wie eine Offerte an die Union: Wehretat aufstocken, Auslandseinsätze... Tragen die bayerischen Grünen das tatsächlich alles mit?
Zu den Auslandseinsätzen: Ich war - noch in meiner Schulzeit - kurz nach dem Dayton-Abkommen in Bosnien. Damals haben "Aktion Sühnezeichen" und "Schüler Helfen Leben" ein Jugendzentrum in Mostar aufgebaut mit dem Ziel, die Jugendlichen, deren Eltern sich bekämpft haben, zusammenzubringen. Das war nur möglich, weil dort nicht mehr geschossen wurde. Solange Krieg herrscht, kann man kein Land wiederaufbauen. Das wurde erst durch das Eingreifen der Nato möglich. Wenn ich Bundeswehrsoldaten jedoch einer solchen Gefahr aussetze, brauchen sie eine gute Schutzausrüstung, und die kostet Geld. Das ist keine Offerte an die Union, sondern unser Fürsorgeanspruch gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten. Es gibt hier also Anknüpfungspunkte mit der Union, aber im Umwelt- und Klimaschutzbereich liegen zwischen uns Welten.

Ja-aber-Politik von Markus Söder beim Klima-und Artenschutz

Wieso? In Bayern feiert sich die Regierung doch regelrecht für das Arten- und das Klimaschutzgesetz.
Das ist eine Party ohne Anlass. Ich habe noch nie ein Gesetz wie das Klimaschutzgesetz gesehen, das nur aus Soll- und Kann-Bestimmungen besteht und nichts ist einklagbar. Das ist klassische Ja-aber-Politik von Markus Söder: Man müsste was machen für den Klimaschutz - aber nichts verbindlich vorschreiben. Dieses Gesetz ist das Papier nicht wert, auf dem es steht. Es ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die vor einem Jahr für mehr Klimaschutz demonstriert haben, vor allem für die Generation "Fridays for Future". Und das Artenschutzgesetz kam ja nicht durch Söders Erkenntnis zustande, sondern durch den Druck von 1,8 Millionen Menschen, die wirklich was ändern wollen.

Immerhin: Forstministerin Michaela Kaniber erfüllt mittlerweile die Forderung von Bund Naturschutz und Greenpeace: Zehn Prozent der öffentlichen Wälder sind als "Naturwälder" ausgewiesen. Das ist doch was.
Das ist ein erster guter Schritt - der ebenfalls auf den Runden Tisch zum Volksbegehren "Rettet die Bienen" zurückgeht. Er ersetzt aber keinen dritten Nationalpark.

Artenschwund in Bayern geht weiter

Warum nicht?
Weil wir beim Nationalpark von großflächig zusammenhängenden Gebieten von mindestens 10.000 Hektar sprechen - und von integrierten Forschungsstellen, die sich zum Beispiel damit beschäftigen, wie sich bestimmte Arten entwickeln. Der Artenschwund in Bayern geht doch weiter. Deshalb müssen wir wissen, wie sich Lebensraum am besten regeneriert und vom Aussterben bedrohte Tiere und Pflanzen in ihrem Bestand bewahrt oder wieder aufgepäppelt werden können. Das hat in Berchtesgaden bei Steinadlern und Schmetterlingen gut geklappt.

Und warum müsste es Ihrer Meinung nach diesmal explizit ein Buchen-Nationalpark sein wie im Steigerwald?
Weil diese alten, starken Buchen europaweit in dieser Dichte kaum vorkommen. Da trägt Deutschland Verantwortung. Wir haben doch die Aufgabe, verschiedene Lebensräume zu schützen - vom Bergwald über Moorflächen bis eben zum Buchenwald. Alle bieten den Lebensraum für unterschiedliche Tier- und Pflanzenarten. Und ein Nationalpark ist eben mehr als ein Naturwald. Wir sind das größte Flächenland der Bundesrepublik und haben seit 42 Jahren keinen Nationalpark mehr ausgewiesen - da ist viel Luft nach oben!

Grünen-Fraktionschef Hartmann will Pflichtwert gegen Flächenfraß

Im Landesplanungsgesetz, das nächste Woche im Landtag behandelt wird, geht es unter anderem um den Flächenfraß im Freistaat. Sie plädieren für eine Begrenzung auf fünf Hektar pro Tag. Dieser Richtwert findet sich im Entwurf der Staatsregierung wieder.
Ja, als Richtwert. Wir brauchen aber einen Pflichtwert. Fünf Hektar sollen laut Gesetz "angestrebt werden" - schwächer kann man es nicht ausdrücken. Außerdem bleibt offen, wie man da hinkommt und welche Maßnahmen man verbindlich in die Wege leitet. Das ist wieder die typische Ja-aber-Politik von Markus Söder: eine reine Absichtserklärung. Wir Grünen greifen in unserem Gesetzentwurf ebenfalls das Fünf-Hektar-Ziel auf - und wir haben seit dem Volksbegehren "Betonflut eindämmen" nachjustiert: Wir haben die Wünsche der Verfassungsrichter aufgegriffen und uns den kommunalen Spitzenverbänden angenähert. Wir fordern jetzt, den Flächenverbrauch ab 2021 von aktuell 10,8 schrittweise auf fünf Hektar im Jahr 2026 zu verringern. So weiß jeder kommunale Planer, wo die Reise hingeht, und kann sich darauf einstellen.

Weshalb eigentlich genau fünf Hektar?
Das Ziel der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung ist ein Maximum von 30 Hektar pro Tag. Der bayerische Anteil davon sind fünf Hektar. Darauf können wir alles unterbringen, was wir in Zukunft noch brauchen. Das heißt auch: Denken, bevor der Bagger kommt. Dann baut man den neuen Drogeriemarkt eben auf den geplanten Discounter und drunter eine Tiefgarage anstelle riesiger Parkflächen - schon kommt man mit einem Bruchteil der Fläche aus. Dasselbe gilt für Gewerbegebiete, die zu 40 Prozent aus Pkw-Stellplätzen bestehen. Ich freue mich, wenn eine Firma sich erweitern will, aber das muss nicht auf der Wiese nebenan sein: Baut ein Parkdeck auf dem Parkplatz und nutzt eingesparte Fläche, um dort die Produktion zu erweitern.

Grünen-Chef: "Am Ende werden zwei Gesetze beschlossen, die nichts verändern"

Ein Instrument, um den Flächenfraß einzudämmen und Wohnraum zu schaffen, wäre die Grundsteuer C, die Sie ebenfalls fordern. Die CSU hat das Vorhaben nun aber fallengelassen - wohl, um den Koalitionsfrieden mit den Freien Wählern nicht zu gefährden.
Darüber kann ich nur den Kopf schütteln. Die öffentliche Hand schafft doch Baurecht, damit Wohnungen entstehen und nicht dafür, dass jemand mit dem Wert eines Grundstücks spekuliert. Die Grundsteuer C soll den Kommunen ermöglichen, einen höheren Hebesatz auf brachliegende Flächen anzuwenden, auf Baulücken, die ja zudem oft in Ortskernen liegen. Im Umkreis von München rufen die Bürgermeister regelrecht nach einem solchen Instrument. Dass die Regierung ihnen so ein Instrument verwehrt, mit dem leichter Wohnraum geschaffen werden kann, verstehe ich nicht. Tatsächlich müsste man noch weiter gehen. Etwa, indem man Kommunen bessere Vorkaufsrechte einräumt.

Lassen Sie uns zum Schluss noch einmal auf das Jahr zurückblicken - diesmal aus umweltpolitischer Perspektive. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Politik muss handeln und nicht nur ankündigen. Sonst verspielt man das Vertrauen in unser politisches System. Da ist es fast egal, ob man den Klimaschutz wie die AfD leugnet, oder ob man ihn eingesteht, aber nichts dagegen tut. Das Ergebnis ist dasselbe. Söders "im Prinzip dafür, im Konkreten dagegen" zieht sich durch das gesamte Jahr. Das Klimaschutzgesetz und das Landesplanungsgesetz hatte er ganz groß angekündigt - und Ende nächster Woche werden die Regierungsfraktionen CSU und FW zwei Gesetze beschlossen haben, die gar nichts verändern. Söder muss endlich lernen: Zum Handwerk gehört auch Machen, nicht nur Klappern. Bayern kann mehr!

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.