Ludwig Erhard: Der große Konkurrent
Der spätere Vater des Wirtschaftswunders und Gustav Schickedanz: die fast gleichen Geschäfte der einstigen Schulkameraden...
NÜRNBERG/FÜRTH Zehn Jahre lang schien es, als hätte Gustav Schickedanz einen Erbvertrag mit dem Glück, als würden seine Bäume ausnahmsweise doch in den Himmel wachsen. Doch nach dem grausamen Unfall, nach dem Tod der Frau, des Sohnes, des Vaters sieht er keinen Sinn mehr im Leben, schon gleich gar nicht im Geschäftsleben.
Seine schweren Verletzungen nach dem Unfall heilen aus, die seelischen Wunden bleiben. Gustav Schickedanz zieht sich aus dem Unternehmen zurück, seine Schwester Liesl übernimmt die Chef-Stelle. Und dann gerät die Business-Welt aus den Fugen: Die Börsenkatastrophe an der Wall-Street, der Schwarze Freitag am 29. Oktober 1929.
Über fünf Millionen Menschen in Deutschland verlieren ihre Arbeit. In Fürth und Nürnberg sind über 30 Prozent ohne Stelle. Und ein gewisser Adolf Hitler inszeniert in der Nachbarstadt mit geifernder Mithilfe des Volksschullehrers und Berufs-Judenhassers Julius Streicher die ersten Parteitage der NSDAP. Die Nazis rüsten auf.
Nicht ahnend, dass die braune Pest bald salonfähig wird, macht ein Schulfreund von Gustav Schickedanz gegen die Nazis und ihre Sicht von zukünftiger Wirtschaftspolitik schriftlich mobil. Über die Vorschläge des späteren NS-Wirtschaftsministers Hjalmar Schacht hieß es da: „Ein Gemisch aus banalen Selbstverständlichkeiten, platter Ignoranz und schwitzenden Widersprüchen, jenseits des Diskutablen, man kann es nur hinwerfen, ergrimmt und erbittert über solche Notzüchtigung des Gedankens zu Zwecken politischer Karriere.“ Der Verfasser: Ludwig Erhard.
Der in Fürth geborene und aufgewachsene Wirtschaftsexperte, spätere Minister und Bundeskanzler hatte, wie Gustav Schickedanz, die königlich-kaiserliche Realschule absolviert, zwei Klassen unter dem zukünftigen Quelle-Chef. Beruflich waren die beiden Vorzeige-Fürther damals auch nicht weit von einander entfernt. Nach dem Studium hatte Erhard das Geschäft der Eltern geführt: Das „Spezialhaus Wilhelm Erhard“, ein Groß- und Kleinhandel mit Schnitt-, Weiß- und Wollwaren in der Sternstraße 5.
Als Ludwig Erhard Ende 1929 schon an der Handelshochschule in Nürnberg Vorlesungen hält und wissenschaftlich arbeitet, beendet Gustav Schickedanz in Fürth seinen Rückzug vom Leben, vom Geschäft. Die Schwester Liesl und die inzwischen ausgelernte Grete Lachner haben den Chef würdig vertreten – trotz Weltwirtschaftskrise, trotz Börsenkrach undMassenarbeitslosigkeit sprudelt die Quelle immer noch. Ja, die Geschäfte gehen, der konjunkturellen Talsohle zum Trotz, ausgesprochen gut. Daraus mag Gustav Schickedanz seine Kraft, seine Lust zum Weiterleben geschöpft haben. Sein Lebensinhalt wird von da an vor allem das Unternehmen gewesen sein.
Die erste Stunde im Geschäft, nach der monatelangen Abwesenheit, schildert Schickedanz-Biograph Theo Reubel-Ciani so: „Auf einmal stand er wieder im Büro. ,Wir müssen weiter vorwärts schauen!’, sagte er knapp und ging an die Arbeit.“ Und Grete Schickedanz, geborene Lachner, das hochgeschätzte „Frollein Grete“ sagt später: „Ich war damals sehr fröhlich und sehr aktiv. Ich glaube schon, dass ich Gustav Schickedanz in diesen Monaten viel Auftrieb gegeben habe.“
Die frisch gebackene Kaufmannsgehilfin arbeitete nach dem Ende ihrer Ausbildung in der Buchhaltung, hatte zwei Lehrmädchen als Mitarbeiterinnen, und der Chef nahm sie oft zu Einkaufsverhandlungen mit. Gründlicher als Grete Lachner wird kaum eine Managerin ihren Beruf als spätere Konzern-Chefin gelernt haben.
Mit ihrer Hilfe baute Gustav Schickedanz anfang der dreißiger Jahre sein Versandhaus langsam aber stetig zum Großunternehmen aus, die Firma expandierte zusehends. Gustav Schickedanz kaufte ein Gebäude in der Nürnberger Straße dazu, erwarb das 8000 Quadratmeter-Gelände einer pleite gegangenen Schuhfabrik in der Artilleriestraße.
1932 ist der Quelle-Katalog schon ein Bestseller, die begehrten illustrierten Preislisten werden in einer Auflage von 150000 Exemplaren gedruckt. Gustav Schickedanz lässt im neuen Warenlager in der Artilleriestraße eine Fließbandanlage einbauen. Neben den Kurzwaren werden inzwischen auch Bleistifte, Taschenmesser, Rasierzubehör, Christbaumschmuck, Tabakpfeifen mit Gummimundstück, Korkenzieher, Knallblättchenpistolen, Bohnerwachs und Vorhangschlösser eingepackt und mit der Post verschickt. Täglich laufen über das neue Fließband bis zu 15000 Pakete, viele Artikel werden in eigener Produktion in Fürth hergestellt.
Über 100 Mitarbeiter stehen bei Gustav Schickedanz auf der Lohnliste. Die Zukunft leuchtet rosarot – mit deutlich braunen Untertönen, die bald zum Hauptton werden. Im November 1932, zwei Monate vor der „Machtergreifung“ Hitlers, lässt sich Gustav Schickedanz als Mitglied der NSDAP eintragen.
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