Letzter Teil der AZ-Serie: Benedikt und die Widersprüche – ein fehlbarer Papst
Für einen Papst gilt, was für den Rest der Menschheit undenkbar wäre: Dieser Mann hat immer recht. Seit gut 150 Jahren gilt das päpstliche Dogma, das sich auf Lehr- und Moralfragen bezieht.
Wie bizarr muss es da für Benedikt gewirkt haben, dass er sich wie jeder Normalsterbliche am Landgericht Traunstein verantworten muss. Dort hat ein 38-jähriger Mann, der nach eigenen Angaben von dem verurteilten Wiederholungstäter Priester H. missbraucht wurde, eine Zivilklage gegen verschiedene Kirchenmänner erhoben.
Darunter auch der emeritierte Papst. Während dessen Zeit als Erzbischof von München und Freising soll er H. nicht daran gehindert haben, weiter mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten.
Missbrauchsvorwürfe brachten Benedikt XVI. in Bedrängnis
Obwohl man schon 1980 wusste, dass H. sich von heranwachsenden Jungen sexuell angezogen fühlte, und tätlich geworden war, setzt die Erzdiözese ihn zunächst in Grafing bei München als Seelsorger ein. Er wird rückfällig: H. soll sich an zwölf Jungen vergangen haben.
1987 wird H. nach Garching an der Alz versetzt – ohne jegliche Beschränkungen für die Arbeit mit Jugendlichen und Kindern. Dort werden der Erzdiözese schon 1993 Vorwürfe von homosexuellen Handlungen an einem Erstkommunionskind und mehreren Jugendlichen gemeldet. Dennoch: H. bleibt bis 2008 und missbraucht weiter Kinder und Jugendliche.
Benedikt leugnete in seiner schriftlichen Stellungnahme im Missbrauchsgutachten der Erzdiözese München und Freising, bei einer Sitzung, in der es um H. ging, anwesend gewesen zu sein. Allerdings konnte ihm seine Teilnahme an der Ordinariatssitzung kurze Zeit nach Veröffentlichung des Gutachtens nachgewiesen werden. Laut seinen Anwälten soll einem Berater ein Fehler unterlaufen sein und Benedikt seine Anwesenheit nicht geleugnet haben.
Zwar bat Benedikt die Missbrauchsopfer von H. um Verzeihung. Dennoch wirkte sein Nachtarocken in dieser Angelegenheit auf viele Menschen halbherzig und unaufrichtig.
Verurteilter Sexualstraftäter wurde als Seelsorger eingesetzt
Der ehemalige Papst verstrickt sich noch in einem weiteren Fall, der im Gutachten genannt wird, in Widersprüche. In Unterwössen im Chiemgau war Joseph Ratzinger ab den 60er Jahren jahrzehntelang regelmäßig im Urlaub. Mit dem Dorfpfarrer hatte er studiert und eine enge Freundschaft gepflegt. Aus dieser Zeit gibt es zahlreiche Bilder und viele Zeitzeugen erzählen von seinen Besuchen. Nur streitet Benedikt im Missbrauchsgutachten vehement ab, jemals dort Urlaub gemacht zu haben.
Über der Idylle des Dorfes liegt ein tiefer Schatten. Denn dort hatte ein Priester, der Vorgänger von Ratzingers Studienfreund, in den 1960er Jahren vielen Buben sexuelle Gewalt angetan. Trotz einer Haftstrafe wurde dieser Mann später als Seelsorger im Ausland und als Vikar in der Erzdiözese München und Freising eingesetzt – während Ratzinger Erzbischof war.
Unterwössen war von den Taten tief gespalten. Die Eltern der vergewaltigten Kinder und Jugendlichen wurden in Geschäften teils nicht mehr bedient. Mit dieser Stimmung muss auch Ratzingers Freund konfrontiert worden sein. Aber will man dem emeritierten Papst glauben, wurde so etwas auch unter engen Freunden nicht thematisiert.
Man kann es schon etwas ungewöhnlich finden, dass ein Erzbischof nicht weiß, dass er einen Straftäter beschäftigt. Und sehr ungewöhnlich, wie schnell eine Beförderung geht. Denn Ratzinger beförderte H. kurz vor dessen Ruhestand zum Pfarrer. Ist es günstig, wenn jemand, der so wenig von seiner Erzdiözese mitbekommen haben will, die größte Organisation der Welt führt?
Benedikt galt bei vielen Fragen als Hardliner
Ahnungslos wirkt der spätere Papst, wenn man ihm Glauben schenkt. Im Kontrast dazu wirkt Benedikt umso wissender auf die Frage hin, wie es zu den zahlreichen Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche komme: Daran seien die "Lockerung der Moral" durch die 68er und "homosexuelle Clubs" in den Priesterseminaren mitverantwortlich.
Ob es nun Schlampigkeit, Inkonsequenz oder Vergebung war im Falle der Missbrauchstäter – an anderer Stelle war Benedikt beinhart. So etwa beim Thema Frauen im Priesteramt. Bei der Ablehnung von Homosexualität. Ratzinger sorgte auch dafür, dass die Kirche aus dem staatlichen System der Schwangeren-Konfliktberatung ausstieg.
Oftmals blieb Benedikt auch rätselhaft. In einer Rede in Regensburg 2006 verprellte er Muslime so, dass islamische Religionsvertreter diese als "Hasspredigt" einstuften. Viele verstanden ihn so, dass er dem Islam pauschal Gewalt und Drohgebährden unterstellte. Ein Missverständnis oder eine bewusste Provokation? Kurze Zeit später versöhnte er die Muslime bei einem Besuch in der Türkei.
Seine Milde gegenüber den Pius-Brüdern irritierte wiederum viele Juden. Benedikt rehabilitierte mehrere Bischöfe – darunter auch Richard Williamson, der den Holocaust leugnet. Allerdings reiste Benedikt selbst nach Auschwitz und besuchte die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Prozess: Tritt Papst Franziskus als Rechtsnachfolger ein?
Die Augen reiben ob der Widersprüche muss man sich auch bei einem Fernsehinterview Ratzingers in den 90er Jahren, bei dem er die Inquisition relativierte: "Der Fortschritt war, dass nichts mehr verurteilt werden durfte ohne Inquisitio, das heißt, dass Untersuchungen stattfinden mussten." Dass diese meist mit Daumenschrauben oder anderen Foltermethoden verbunden waren, erwähnt er nicht.
Diese hätten ihn am Traunsteiner Landgericht nicht erwartet. Wie gehts dort weiter? Die Initiative Sauerteig, die sich für die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in Garching einsetzt, fordert Papst Franziskus auf, in das Klageverfahren einzutreten. Und zwar als "Rechtsnachfolger von Benedikt XVI.", wie es in einem Offenen Brief der Initiative heißt.
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