Lehrberg: „Jeder schaut, wo er bleibt“
Zwei Jahre nach der Gas-Katastrophe ist das große „Wir-Gefühl“ dem Streit um Baupläne und „richtiges“ Gedenken gewichen.
LEHRBERG Zwei Jahre danach erinnert augenscheinlich nicht mehr viel an eine der verheerendsten Katastrophen in der Metropolregion. Damals war im beschaulichen Lehrberg – sieben Kilometer nordwestlich von Ansbach – ein 4000- Liter-Gastank explodiert. Ein Mechaniker hatte gepfuscht. Teile der 3200-Seelen-Gemeinde lagen in Schutt und Asche. Wie durch ein Wunder starben „nur“ sechs Menschen.
Zwei Jahre danach geht in Lehrberg alles wieder seinen gewohnten Gang: 13000 Autos und Lkw brausen täglich über die B13, die durch den Ort führt. Die Lehrberger kaufen ein, gehen in ihre St. Margarethen-Kirche, sitzen in Cafés und Wirtshäusern. Nur noch zwei Brachflächen erinnern an das Unglück vom 22. September 2006.
Die Lehrberger haben keine große Lust, sich mit Fremden über die Vorkommnisse zu unterhalten. Auch nicht Bürgermeister Reiner Grimm (Bürgerblock/FW). Er ist eigentlich im Urlaub und lässt ausrichten, dringend ein neues Garagentor einbauen zu müssen. Presseverteter sollen halt „nächste Woche nochmal vorbeischauen“, oder eben mit Grimms Stellvertreter und Parteifreund Richard Stallmann Vorlieb nehmen.
„Wem hilft das weiter, wenn er verurteilt wird?"
Zwei Jahre danach steigt jetzt „der Prozess“. Er ist Dorfgespräch. Auch Richard Stallmann, hauptberuflich Landwirt im Gemeindeteil Ballstadt, weiß einiges zu berichten. Mit „dem Prozess“ aber meinen Einheimische nicht etwa jene Verhandlung gegen den 44-jährigen Monteur, der verbotenerweise mit einem Druckluft-Schlagschrauber hantierte und damit das Unglück auslöste. Ihm haben die meisten Lehrberger längst verziehen: „Der ist genug gestraft, wem hilft das weiter, wenn er verurteilt wird?“, sagen sie im Rathaus und auf der Straße.
„Der Prozess“ ist eigentlich gar kein „Prozess“ im juristischen Sinne. Mit „dem Prozess“ meinen die Lehrberger den Rechtsstreit des Bauunternehmers Heinrich R. mit seinem Nachbarn. Um den zu gewinnen, ist R. gegen den Freistaat in Berufung gegangen.
„Der Prozess“ offenbart, wie sich zwei Jahre nach dem Unglück, das zunächst alle Lehrberger betraf und zur Einheit schweißte, wieder jeder sich selbst der Nächste ist. Die Protagonisten: Heinrich R. und Gastronom Karl Kirschner.
Der Pfarrer findet die ganze Angelegenheit „sehr traurig“.
Obwohl die Schutt-Reste des „Weißen Ross“ längst beseitigt sind, steht Karl Kirschner vor den Trümmern seiner Existenz. Er will und muss den Betrieb mit Gasthof und Metzgerei wieder aufbauen: Einer seiner Söhne studiert noch, der andere hat gerade seine Ausbildung beendet.
Die Kirschners leben von Versicherungsgeldern. Gerne würde Karl Kirschner bald wieder Touristen oder Wanderarbeiter in seiner Pension begrüßen, und er könnte eigentlich sofort mit dem Neubau seines „Weißen Ross“ beginnen – das Landratsamt hat Kirschners Bauplan zugestimmt.
Wenn da nicht Bauunternehmer R. nebenan ein Grundstück besäße und die Pläne des Nachbarn torpedieren würde: die Grundmauer zu hoch, der Abstand zu R.’s Haus zu klein... Der Bauunternehmer scheint keine Gelegenheit auszulassen, dem geplagten Kirschner Steine in den weg zu legen: „Er soll halt einen Plan erstellen, mit dem die Nachbarn leben können“, sagt R. zur AZ.
„Sehr traurig“ findet Pfarrer Rudolf Keller die Angelegenheit. Er selbst war gerade als Vertretung in die Gemeinde gekommen, als das Unglück passierte. Und ist geblieben, obwohl sich der habilitierte Kirchenhistoriker sicher andere Betätigungsfelder vorstellen könnte. Keller wählt seine Worte sorgfältig, verliert kein böses Wort über die Beteiligten. Kann sich aber nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, dass der R. nach 24 Jahren nicht mehr in den Gemeinderat gewählt wurde.
Die Zeit unmittelbar nach der Katastrophe beschreibt der Geistliche als „beispielloses Erleben ungeheurer Solidarität“. Zwischen den Trümmern sei ein „ganz großes Wir-Gefühl“ spürbar gewesen. Jetzt aber sind die Toten beerdigt, und „jeder kämpft für sich“, räumt Keller ein.
An vorderster Front solche, „die den Eindruck erwecken, sich am Unglück zu bereichern“, sagt Keller verklausuliert, ohne Namen zu nennen.
Ein Name fehlt auf der Gedenktafel
Fakt ist: Lehrberg hat eine neue Bäckerei bekommen. Aus einem Neubau direkt neben der Unglücksstelle verkauft eine Kette ihre Brötchen und Kuchen. Die Bauplanung übernahm R. Gleich daneben, wo die alte Bäckerei stand, prangt eine riesige Baulücke: Der alte Bäckermeister, der bei der Explosion seine Frau, seinen Sohn, ein Lehrmädchen, einen Gesellen und eine Verkäuferin verlor, hat dort eine Gedenktafel errichten lassen. Ein Name darauf fehlt: der von Karl Kirschners Vater. Er starb Wochen nach dem Unglück an seinen Verbrennungen. Bäcker- und Metzgermeister waren sich nie grün...
Die Tafel ist so nicht nur ein Mahnmal für die Toten, sondern auch eins für die Lebenden: „Wenn es ans Eingemachte geht“, sagt Pfarrer Keller, „schaut jeder, wo er bleibt.“
Steffen Windschall