"Nur wer sich zeigt, wird sichtbar"

Mit ihrer Warnweste erreicht die schwer hörgeschädigte Denise fast 10.000 Menschen auf Facebook.
von  Carmen Merckenschlager
Denise Molina (28) und Hund Melon auf ihrer Spazierrunde. Auch hier trägt Denise ihre Weste, damit Fahrradfahrer und Spaziergänger schneller auf sie aufmerksam werden.
Denise Molina (28) und Hund Melon auf ihrer Spazierrunde. Auch hier trägt Denise ihre Weste, damit Fahrradfahrer und Spaziergänger schneller auf sie aufmerksam werden. © Carmen Merckenschlager

Landshut - Denise Molina (28) will sich Gehör verschaffen, weil ihr eigenes langsam schwindet. Seit sieben Jahren sterben die Haarzellen in ihren Ohren ab, welche für das Hören zuständig sind.

Sie leidet an einem außergewöhnlichen degenerativem Prozess im Innenohr. Auf einem Ohr hört sie noch fünf Prozent, auf dem anderen zehn. Bis sie ganz taub ist, ist es nur eine Frage der Zeit.

Zwar trägt Denise Hochleitungshörgeräte, die ihr helfen, dennoch ist sie in ihrem Leben stark eingeschränkt. Denise ist nicht nur schwer hörgeschädigt, sie leidet auch unter starken Gleichgewichtsstörungen, die sie immer wieder taumeln lassen. Eine starke Konzentrationsschwäche plagt Denise außerdem.

Werden die Nebengeräusche zu viel, bekommt sie Stress

Für sie ist ein Leben alleine kaum möglich, in ihrem Alltag ist sie auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen. Seit Jahren kann sie kein alterstypisches Leben mehr führen. Weil ihr spezielles "Rogerpenn" - das Gerät, welches Denise beim Hören unterstütz - sämtliche Nebengeräusche ebenso an ihr Ohr leitet, wie wichtige Gespräche.

Ist sie in Gesellschaft mit mehreren Leuten gleichzeitig, beutetet das für die junge Frau keinen Spaß, sondern nur Stress. Cafés, Bars, Clubs: Für Denise sind Besuche dort kaum möglich. So kam es auch, dass sich immer mehr Freunde abgewandt haben, die anfangs noch versucht haben, Verständnis zu zeigen. Deshalb entwickelte die junge Frau, die so gerne selbstständig wäre, zusätzlich eine schwere Depression. Denise: "Immer wieder gibt es Tage, an denen ich nicht mehr leben mag. Dann gebe ich Papa meine Tabletten und sage: Versteck sie bitte, sonst passiert was Schlimmes."

 

Die Familie steht hinter Denise

Wer Denise aber gegenübersitzt, erkennt, dass sie nicht nur großen Schmerz, sondern auch eine unglaubliche Stärke in sich trägt. Sie lacht viel, ihre Augen sind offen und freundlich. Das liegt an ihrer Familie. Ihre beiden Geschwister und ihre Eltern stehen hinter ihr, bei allem, was sie tut. Sie helfen ihr, ihren Alltag zu meistern. In dem Haus der Familie stehen Bilder, Gemälde und Kalender - immer mit der Familie darauf abgebildet.

 

Denises Mama, Papa und ihre Geschwister unterstützen sie, egal ob es darum geht, gemeinsam einkaufen zu gehen oder bürokratische Hürden wie die der Erwerbsminderungsrente zu meistern, weil die gelernte Friseurin nicht mehr arbeiten kann. "Oft heißt es, Denise sei ja ‚nur' schwerhörig", sagt Denises Papa. Die Leute würde nicht verstehen, wie gehandicapt die 28-Jährige dadurch wirklich ist. "Ich gehöre weder zu den Hörenden, und auch noch nicht zu den Tauben. Ich lebe sozusagen zwischen den Welten", erklärt sie ihre Situation.

"Wir sind reich, weil wir uns alle noch haben"

Wenn Denise spricht, merkt man nicht, dass sie schlecht hört. Ihre Aussprache ist klar und sauber artikuliert. "Darüber sind die Ärzte immer erstaunt", sagt Denise. Sie hofft, dass das auch so bleiben wird.

Weil Denises Nervenkostüm dauerhaft strapaziert ist, ist sie auch anfälliger für Krankheiten. Kürzlich musste sie am Auge operiert werden, vor fünf Jahren plagte sie eine schwere Herzmuskel- und beutelentzündung. Seitdem ist ihr Immunsystem geschwächt. Als sie ebenfalls vor fünf Jahren noch einen schweren Autounfall hat, verliert sie auf einen Schlag 20 Prozent ihres Hörvermögens.

Für die Familie ist es nicht leicht. Als sie ihre Geschichte erzählen, weinen abwechselnd Mama, Schwester und Denise selbst. Aber ihre Mutter sagt auch: "Wir sind so reich. Denn wir haben uns immer noch gegenseitig. Das ist unsere Ressource." Außerdem hat Denise seit Kurzem eine ambulante psychosoziale Betreuung, die sie im Alltag zusätzlich unterstützt. Das hilft ihnen sehr.

Trotzdem: Ein weiterer Punkt, der sowohl Denise als auch ihren Eltern zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass Denises Einschränkungen nicht sichtbar sind. "Ein Blinder trägt eine Binde um den Arm, ein Rollstuhlfahrer sitzt im Rollstuhl - das kann man sehen, sie werden mit Rücksicht behandelt. Dass ich nichts höre, kann man nicht sehen", sagt Denise.

Denise wird im Alltag "manchmal richtig blöd angesprochen"

Das wird für sie zum Problem, wenn sie mit Hund Melon spazieren geht und aufgrund ihrer Gleichgewichtsstörungen mal zu weit nach links oder rechts ausschert. Oder wenn sie die Klingel eines Fahrradfahrers nicht hört.

Denise und ihre Schwester Malea (11) mit Hund Melon.
Denise und ihre Schwester Malea (11) mit Hund Melon. © Carmen Merckenschlager

"Dann werde ich manchmal richtig blöd angesprochen", erzählt die junge Frau. Das verletzt ihr ohnehin schon angeschlagenes Gemüt dann sehr, denn: "Ich meine es ja nicht böse und will niemanden gefährden."

Dass ihre akute Hörschädigung nicht sichtbar ist und Denise immer wieder angegangen wird, beschäftigt die Familie schon länger. Eine Zeitlang trug Denise blinkende Turnschuhe, damit sie Passanten besser sehen können. Doch das ist damals nicht das Wahre für sie. Ihr Gehör schwindet weiter, ihre Unsicherheit wächst. Denise mag immer seltener nach draußen gehen.

Da kommt ihrer Mutter die Idee mit der Warnweste. "Die gibt es in allen möglichen Farben und eine solche Weste macht aufmerksam", findet Denises Mutter. Die Familie lässt die Weste für Denise mit einem Hörgerätesymbol bedrucken. Sie ist pink. Es ist die Lieblingsfarbe von Denise.

Beim Spazierengehen fühlt sich Denise seitdem sicherer. "Die Weste löst was aus in den Köpfen. Deshalb heißt sie ja auch Warnweste. Im besten Fall sind die Menschen dann rücksichtsvoller", beschreibt sie das Gefühl mit ihrem neuen Accessoire.

Um wie viel sicherer die Weste Denises Leben wirklich macht, kann ihre Mutter nicht beurteilen. Aber es schadet nicht, "allein schon für das Gefühl von Denise", sagt die Mama.

Nicht jeder erkennt sofort das Zeichen auf der Weste

So schön die Idee mit der Weste ist, dadurch ergibt sich für Denise ein neues Problem. Denn nicht jeder erkennt sofort das Symbol auf dem Rücken der Weste. "Die Leute sehen mich komisch an, wenn ich sie trage. Alles was ich dann machen kann, ist den Leuten zu erklären, warum ich sie trage. Aber das wird auf Dauer sehr anstrengend", sagt sie.

Vor einigen Wochen fährt Denise mit dem Bus. Sie fühlt sich gemustert, ihr Tag ist ohnehin geplagt von einem Depressionsschub. Kurzerhand fasst sie den Entschluss, etwas zu unternehmen - so mag sie nicht mehr weiter machen.

Sie erstellt deshalb einen Post auf Facebook und Instagram und stellt ihn in die Facebook-Gruppe Landshut. Sie schreibt darin: "Hallo liebe Landshuter :) Ich sitze gerade im Bus und denke, ich muss mal kurz aufklären. Ich trage diese Weste (die meine Eltern anfertigen lassen haben), damit man erkennt, dass ich hörgeschädigt bin (hochgradig schwerhörig). Ich habe auch eine Gleichgewichtsstörung. Damit vor allem die Autofahrer nicht so nah an mir vorbei rasen oder Fahrradfahrer sich aufregen, dass ich nicht auf die Seite gegangen bin. Ich habe nicht so eine schnelle Reaktion und jeder Tag ist anders. Da manchen dieses Zeichen nichts sagt und mich rätselnd anschauen, dachte ich mir, ich kläre das mal hier auf. :) Eine schöne Woche euch!"

Denises Facebookpost wird fast 10 000 Mal geteilt.
Denises Facebookpost wird fast 10 000 Mal geteilt. © Carmen Merckenschlager (Screenshot)

Überwältigendes Feedback auf Facebook-Post

Innerhalb von einer Stunde gefällt der Post rund 300 Personen. Nach einer Woche wird der Eintrag fast 10.000 Mal geteilt, 154 Kommentare werden hinterlassen, rund 1.600 Personen drücken auf "Gefällt mir". Denise erhält persönliche Nachrichten und sogar Beziehungsanfragen - was sie nicht bekommt, sind negative Reaktionen auf ihren offenen Post.

Das erstaunt sie mit am meisten. "Ich war überwältigt von dem Feedback. Es ist unglaublich schön, wie nett die Leute geblieben sind", sagt Denise, die weiß, dass im Internet nicht immer Wert auf Netiquette gelegt wird. "Ich habe das bei früheren Posts auch schon anders erlebt", erinnert sie sich. Bekannte verurteilten ihre Offenheit im Netz.

Auch wenn sie nicht mit derartiger Resonanz gerechnet hat, sind Denise und ihre Familie wiederum sehr froh darum, denn: Denise möchte aufklären und ein Bewusstsein für Menschen wie sie schaffen. "Ich will kein Mitleid. Aber es wäre schön, wenn die Menschen dadurch rücksichtsvoller werden würden." Ihr Ziel wäre es, das Symbol samt Weste bekannt zu machen - ähnlich der Binde für blinde Personen. Denise will damit offen umgehen, denn sie findet: "Nur wer sich zeigt, wird sichtbar."

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