Ein Wiedersehen nach acht Jahren in Afghanistan

Der Polizist Manfred Thalkofer ist zum dritten Mal in Afghanistan. Und hat tatsächlich Akram wiedergefunden - den Buben, den er 2010 dort zufällig kennenlernte
von  Claudia Hagn
So sieht Akram 2010 aus.
So sieht Akram 2010 aus. © Thalkofer

Landshut - Es staubt. Die Luft ist voller Sand. Und voller Fäkalienreste. Die mehr als behelfsmäßigen Hütten halten dem Wind nur wenig stand, die Tücher gegen den Sand flattern, sind dreckig.

Davor steht eine Familie, sechs, sieben kleine Kinder, ein Vater mit Bart, tiefen Falten im Gesicht - und Akram, 18 Jahre alt, ohne Arme. In Kabul, der afghanischen Hauptstadt, wohnt er gerade mit seinen Geschwistern und Eltern in einer provisorischen Hüttensiedlung ohne Wasser und Strom, wie viele andere Afghanen auch.

Doch bei Akram gibt es einen kleinen Unterschied. Akram kennt einen Landshuter. Lange schon. Und er wurde von genau diesem Landshuter nach langer Zeit wiedergefunden. Weil der Landshuter Akram helfen will - und zwar dauerhaft.

Manfred Thalkofer heißt der Landshuter und er war vor acht Jahren zum ersten Mal in Kabul. Thalkofer ist eigentlich Chef des Kriminaldauerdienstes in der Landshuter Neustadt. Doch vor acht Jahren zog es ihn zum ersten Mal ins 6500 Kilometer entfernte Kabul, wo er half, afghanische Polizisten auszubilden.

 

Der Bub ist zehn Jahre alt, statt Arme hat er nur noch Stümpfe

 

Bei einer Erkundungsfahrt durch die Hauptstadt sah er damals einen kleinen Buben, um die zehn Jahre alt. Thalkofer war gerade dabei, Wasserflaschen zu verteilen - doch der kleine Bub konnte sie nicht halten; er hatte statt Armen nur noch Armstümpfe, weil er eine in den Kriegswirren zerstörte und offen liegende Stromleitung berührt hatte.

Dieses Bild des kleinen Buben mit den Armstümpfen ging Thalkofer nicht mehr aus dem Kopf. Damals, 2010. Und weil Thalkofer gern anpackt, organisierte er eine Spendenaktion für Akram und dessen große Familie in Afghanistan. Er wollte den Menschen mit Lebensmitteln helfen, mit Holz, Öfen. Einfach mit Dingen, die sie für ihr tägliches Leben brauchen.

Über 60 000 Euro sind damals zusammengekommen, gespendet von Lesern der Landshuter Zeitung und in Zusammenarbeit mit der Landshuter Caritas und deren Leiter Ludwig Stangl. Ein Teil des gesammelten Geldes brachte rund 120 Menschen über den afghanischen Winter. In dem es genauso kalt ist wie in Deutschland. Akram bekam zudem Prothesen - und konnte anfangen, schreiben und lesen zu lernen.

Thalkofer kehrte nach Monaten zurück nach Deutschland; und ging 2012 wieder zurück. Zurück nach Kabul, um erneut die Afghanen bei der Polizeiausbildung zu unterstützen. Einen Teil der Landshuter Spendengelder investierten er und seine Kollegen wieder, unter anderem unterstützten sie ein Frauenhaus, das von einer deutschen Ordensschwester geleitet wird. Auch Brunnen wurden gebaut, Kindergärten, Schulen, einer kleinen Klinik und Organisationen konnten die Polizisten vor Ort helfen.

Doch Akram, mittlerweile ein Teenager, ging wieder betteln, ohne seine Prothesen. Die Sicherheitslage in Afghanistan hatte sich 2012 im Gegensatz zu 2010 immens verschärft. Thalkofer verließ das Land schließlich wieder; und sagte damals, eine Wiederkehr im Dienst der Polizei nach Afghanistan sei mehr als unwahrscheinlich.

Aber: Aus dem "mehr als unwahrscheinlich" wurde dieses Jahr im Mai ein "aber sicher doch". Thalkofer ist seitdem wieder in Afghanistan, aber dieses Mal in Mazar-e Sharif. Kabul, so erzählt der Polizist, sei mittlerweile extrem gefährlich, in unregelmäßigen Abständen gibt es Sprengstoffanschläge und Angriffe von Extremisten, wie in anderen Teilen des Landes auch.

Thalkofer hat durch Beziehungen Akram in Kabul wiedergefunden

Etwas besser ist es in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. Dort ist Thalkofer in einem Camp mit über 1000 Mann, auch internationalen Kräften, unter Führung der Bundeswehr, untergebracht. Hier und im benachbarten Polizei-Trainingscamp werden erneut afghanische Sicherheitskräfte aus- und fortgebildet.

Zudem leisten die Beamten des "German Police Project Team" (GPPT) - dessen Außenstellen-Chef Thalkofer mittlerweile ist - für die afghanische Grenzpolizei Hilfe, zum Beispiel bei der Dokumentenprüfung am Flughafen und bei anderen Sicherheitsfragen. Trotz all der Aufgaben trieb Thalkofer aber bei seinem dritten Besuch 2018 immer wieder ein Gedanke um: Was wird wohl aus Akram geworden sein? Lebt er noch? Wie geht es ihm? Ist es möglich, ihm und seiner Familie noch mal zu helfen? Thalkofer startete mit Hilfe vieler afghanischer Kontakte eine Suchaktion - und fand Akram wieder. In Kabul, mittlerweile in einer anderen provisorischen Hüttengegend, mit seinen neun Geschwistern und seinen psychisch und körperlich angeschlagenen Eltern.

Doch nach Kabul fliegen, um Akram wiederzusehen? Wegen der Sicherheitslage unmöglich für Thalkofer. Über Umwege und Beziehungen zu einem befreundeten Bauunternehmer schaffte er es, den jetzt 18-Jährigen mit seinem Bruder und Vater für ein Wiedersehen nach Mazar-e Sharif zu bringen.

Wenn Thalkofer über das Wiedersehen am Flughafen spricht, merkt man: Das muss ein bewegender Moment gewesen sein. "Er hat mich sofort wiedererkannt, ist mir um den Hals gefallen und hat erzählt, wie sehr er immer auf eine Rückkehr des ‚Police Manfred' gewartet hätte. Ich hätte mir nie gedacht, dass das alles so klappt", sagt Thalkofer bei einem Besuch in Deutschland vor ein paar Tagen.

Akram hat mittlerweile geheiratet, war bis zur neunten Klasse in der Schule, spricht ein wenig Englisch und hat dank der Armprothesen tatsächlich schreiben gelernt. Dennoch lebt die Familie immer noch in einem provisorischen Zelt-Verschlag, um den täglich der Fäkal-Staub Kabuls weht. Toiletten gibt es nämlich keine, die Menschen erledigen das, was sie notgedrungen erledigen müssen, im Freien. Durch den Sandsturm verteilen sich dann die Reste als ganz feiner Staub in der ganzen Stadt.

Weil diese Zustände untragbar sind und immer noch rund 9000 Euro von den Spendengeldern auf einem Sparkonto liegen, haben Ludwig Stangl von der Caritas und Manfred Thalkofer nun einen Plan geschmiedet: Jeden Monat sollen 150 Euro über eine internationale Überweisung an die Familie von Akram gehen.

Mit 150 Euro können die neun Personen ihren Lebensunterhalt bestreiten. Es gibt bereits ein Bankkonto bei einer afghanischen Bank: Den Vertrag hat Akram mit einem Zehenabdruck unterzeichnet.

Ein "Happy End" in drei Teilen für den Polizisten aus Landshut und Akram

Auch will der befreundete Bauunternehmer, der Akram für Thalkofer gefunden hat, den Buben der Familie helfen und ihnen Arbeit geben. Damit sie nicht für immer in einem Zelt-Verschlag zwischen Fäkalstaub und anderem Abfall leben müssen.

Für Manfred Thalkofer ist die ganze Geschichte eine Herzensangelegenheit, ein "Happy End" in drei Teilen, wie er sagt. Er hatte nicht mehr zu hoffen gewagt, dass er Akram jemals wiederfindet. Mittlerweile ist der Landshuter wieder in Mazar-e Sharif, wo er noch ein paar Monate bleiben wird. Wenn möglich, will er noch mal Kontakt mit Akram aufnehmen. Und vielleicht sogar seine Frau kennenlernen.

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