18-jährige Syrer erzählt von seiner Flucht nach Deutschland
Landshut - Ahmad ist das jüngste von sechs Geschwistern. Nachdem seine Mutter starb, heiratete sein Vater noch einmal und bekam mit seiner zweiten Frau noch drei Kinder.
Seine Heimat in Syrien ist "zu 90 Prozent zerstört" - auch die Wohnung, in der Ahmad gemeinsam mit seinem Bruder Alaa lebte. "Ich konnte dort nicht mehr bleiben. Ich wollte eine Chance für die Zukunft, wollte lernen und arbeiten", erzählt Ahmad.*
Nach Bombenangriff sitzt Alaa im Rollstuhl
Also machte sich der damals 15-Jährige auf, seinem Bruder Alaa zu folgen. Der 27-Jährige lebte bereits in Landshut, weil er in Deutschland operiert werden sollte: Denn Alaa sitzt im Rollstuhl, seitdem ihn eine Bombe in seiner Heimat Damaskus schwer verletzt hatte. In seiner Wohngemeinschaft in Landshut bekommt der Rollstuhlfahrer nicht die Unterstützung, die er in seiner Situation eigentlich bräuchte. Unter seinen Mitbewohnern hat er keine Freunde, die ihm in seiner Lage helfen, er ist auf sich allein gestellt, schon bei den alltäglichsten Dingen.
Grenzpolizisten schießen auf den 15-Jährigen
Dass Ahmad seinem großen Bruder folgen wollte, konnte sein Vater zunächst nur schwer akzeptieren - die Familie will ihre syrische Heimat nicht verlassen. "Sie haben ihr Leben dort - ich nicht. Ich hätte dort keine Perspektive", sagt Ahmad. Schließlich willigte sein Vater doch ein, seinen Sohn zu unterstützen, damit dieser seinem großen Bruder zur Hilfe kommen konnte. Als Ahmad seine Familie in Syrien verließ, war er gerade 15 Jahre alt.
Um überhaupt eine Chance zu haben, die Grenze zur Türkei überqueren zu können, lieh er sich von seiner Familie Geld - umgerechnet 400 Euro - um einen Schlepper zu bezahlen. Doch irgendetwas lief schief. Viermal versuchte er vergeblich, über die Grenze zu kommen. Einmal schossen die Grenzpolizisten sogar auf ihn. "Ich hatte Todesangst, wollte alles aufgeben und umkehren."
Doch Ahmad dachte an seinen Bruder - der fünfte Versuch gelang. Gemeinsam mit einer Gruppe anderer Flüchtlinge rannte der junge Syrer zwei Stunden lang bis er die Grenze passieren und den türkischen und syrischen Behörden entkommen konnte. In der Türkei nahm ihn ein Bekannter seines Bruders für zwei Tage bei sich auf, danach setzte Ahmad seinen Weg nach Istanbul fort, wo er Arbeit in einer Schuhfabrik fand. Mit dem Geld, das er durch die neue Anstellung bekam, konnte der Jugendliche seiner Familie die Kosten der Flucht zurückzahlen - zumindest in Teilen.
Mit kleinem Motorboot zur griechischen Insel Kos
Der Weg nach Deutschland führte ihn nach knapp zwei Jahren zunächst weiter nach Griechenland. Mit einem kleinen Motorboot und einigen anderen Geflohenen sollte Ahmad auf die griechische Insel Kos übergesetzt werden. Der Schlepper, der das Boot fuhr, nahm dem jungen Syrer alle Kleidung und persönlichen Gegenstände ab. Von diesem Moment an besaß Ahmad nur noch das, was er am Körper trug. Doch auch diesmal misslang der erste Versuch: Die türkische Polizei griff das Flüchtlingsboot auf und brachte die Insassen zurück an Land - und dort für drei Tage in Haft.
"Zu diesem Zeitpunkt war mir schon klar, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Alles wäre umsonst gewesen, wenn ich jetzt umkehren würde", erinnert sich der 18-Jährige. Nachdem er entlassen wurde, stieg er schon eine Woche später erneut in ein Boot - diesmal erreichten sie Kos, ohne ins Visier der Behörden zu geraten. Jetzt sollte die "schlimmste Zeit" in Ahmads Leben beginnen, wie er heute sagt. Er kam in ein Flüchtlingslager, in dem mit ihm noch 4.000 bis 5.000 andere Menschen auf Asyl warteten.
Flüchtlingslager auf Kos - Zustände wie in Moria
Die Lebensumstände dort unterschieden sich laut Angaben des jungen Syrers kaum zu denen im Flüchtlingslager Moria, das zuletzt unter anderem wegen der dort herrschenden katastrophalen Lebensstandards und dem großen Brand in die Medien geriet. Auch auf Kos, knapp 266 Kilometer von Lesbos entfernt, mussten die Flüchtlinge zu mehreren in engen, dünnen Campingzelten schlafen.
Eine Heizung gab es ebenso wenig wie warmes Wasser und Bewegungsfreiheit, erzählt der junge Flüchtling. Ein Gewitter wehte einmal sämtliche Zelte davon. Auf die schlechte Ernährung im Flüchtlingslager führt der 18-Jährige heute auch das Magengeschwür zurück, mit dem er in Landshut kurz nach seiner Ankunft ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.
Ahmad verbrachte in Griechenland insgesamt knapp elf Monate - erst im Flüchtlingslager, später in einer Jugendunterkunft, die sich als noch schlimmer erweisen sollte. Auch dort hatten die Geflohenen zu dieser Zeit, im Frühjahr 2020, bereits mit Corona zu kämpfen. Musste ein Bewohner isoliert werden, wurden die anderen, unter ihnen Ahmad, teilweise für mehrere Tage zu acht oder neunt in einem winzigen Zimmer zur Quarantäne verordnet. "Es waren einfach zu viele Menschen auf einem Haufen."
Antrag auf Asyl in Deutschland
In seiner Zeit auf Kos stellte der junge Syrer einen Antrag auf Asyl in Deutschland, der gegen Ende des Jahres dann auch genehmigt wurde. "Ich dachte, es ist ein Wunder, ich habe erst gar nicht geglaubt, dass ich es tatsächlich geschafft habe." Direkt nach der Landung am 5. Dezember wurde Ahmad nach Landshut ins Kinderheim St. Vinzenz gebracht. Die Einrichtung bietet einen Platz für sogenannte "UMF" - unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge, wie Kinderheimleiterin Magdalena Dauer erklärt. An seinem ersten Tag in Landshut, erinnert sich Ahmad, habe er zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder tief geschlafen. "Ich war komplett ruhig, habe mich sicher gefühlt. Es war wahrscheinlich der beste Tag meines Lebens", so der 18-Jährige.
Seit 23. Dezember lebt Ahmad nun im Jugendwohnheim, doch sein Ziel ist es, mit seinem Bruder in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Dafür betet er täglich. "Dort kann ich ihn unterstützen und meine Ziele verfolgen", so Ahmad. Der 18-Jährige weiß, dass er dafür zuallererst einen Deutschkurs belegen muss; dieser verzögere sich allerdings durch die aktuelle Corona-Situation. In Syrien besuchte Ahmad die Schule bis zur neunten Klasse, in Landshut hat er sich das Ziel gesetzt, eine Ausbildung zum Automechaniker zu machen.
Vorurteile gegenüber Flüchtlingen
Dass einige Menschen auch in Deutschland Vorurteile gegenüber Flüchtlingen wie ihm haben, ist dem 18-Jährigen bewusst. In gewisser Weise könne er das auch verstehen - will sich davon aber nicht stoppen lassen: "Das ist nichts Neues für mich, ich versuche, einfach nicht hinzuhören und mich auf meine Ziele zu fokussieren." Ob der Wunsch der beiden Brüder in Erfüllung geht und sie eine Wohnung bekommen, ist derzeit noch völlig unsicher. "Viele Vermieter haben daran wahrscheinlich kein Interesse", sagt Ahmad. "Aber egal was passiert, schlimmer als die Flucht kann nichts mehr werden."
* Das Gespräch mit unserer Zeitung wurde von einer Dolmetscherin übersetzt.
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