Klaus Holetschek: "Wer Verantwortung will, muss sie auch ausüben"
AZ-INTERVIEW mit Klaus Holetschek. Der 57-jährige CSU-Politiker ist seit Januar 2021 Bayerns Gesundheitsminister.
AZ: Herr Holetschek, Sie haben gerade selbst eine Corona-Infektion überstanden. Wie ist es Ihnen ergangen?
KLAUS HOLETSCHEK: Ich hatte zu Beginn Fieber, fast 40 Grad, und Husten. Aber ich möchte gar nicht darüber nachdenken, wie die Infektion ohne Booster verlaufen wäre. Insofern kann ich nur noch einmal dazu aufrufen, zum Impfen und zum Auffrischen zu gehen.
"Das Risiko von Long-Covid und Post-Covid bleibt auch bei Omikron"
Machen diese milden Verläufe, von denen nun viele Menschen erzählen, die Überzeugungsarbeit nicht schwieriger? Was antworten Sie Zweiflern, die sich fragen, warum sie sich impfen oder boostern lassen sollten - wo sie sich doch trotzdem infizieren und das Virus weitergeben können?
Gott sei Dank sind die Verläufe bei Omikron milder als bei Delta. Aber es gibt auch Ausnahmen. Und das Risiko von Long- oder Post-Covid bleibt. Zudem zeigt der Blick in die Krankenhäuser, dass die Impfung gegen schwere Krankheitsverläufe schützt.
In dieser Woche wurden eine Reihe von Lockerungen beschlossen. Auch mit der Begründung, dass die Infektionszahlen ein Plateau erreicht haben. Doch sind diese Fall-Zahlen wirklich belastbar?
Sicherlich gibt es bei diesen hohen Inzidenzen - wie überall in Deutschland - eine Dunkelziffer. Man kann aber davon ausgehen, dass das Meldewesen weiterhin sehr wertvolle Daten liefert und die Trends im Infektionsgeschehen nach wie vor abbildet. In den Gesundheitsämtern gehört die Meldung der Infektionen mit zu den vorrangigen Aufgaben.
Warum wird die Inzidenz überhaupt noch ausgewiesen?
Sie zeigt die Dynamik der Neuinfektionen an. Deshalb ist sie neben der Hospitalisierung, der Zahl der Neuaufnahmen in unseren Krankenhäusern, der Belastung der Intensivstationen und dem R-Wert ein wichtiger Parameter im Monitoring-System.
"Ich weiß, dass viele Künstler eine schwierige Zeit hinter sich haben"
Gerade bei den älteren Menschen steigt aktuell die Hospitalisierungsquote. Wäre da nicht mehr Vorsicht geboten?
Wir haben auf der einen Seite originäre Freiheitsrechte - und wenn Einschränkungen nicht mehr verhältnismäßig sind, muss man sie zurücknehmen. Auf der anderen Seite muss man bereit sein gegenzusteuern, wenn sich die Lage ändert. Der Maßstab ist immer das Gesundheitssystem.
In Bayern muss man im Theater weiterhin Maske tragen, in der Gastro nicht. Wie rechtfertigen Sie das - wo man im Theater doch eher schweigt und im Wirtshaus dazu neigt, Aerosole zu versprühen?
In der Wirtschaft wird gegessen und getrunken. Das geht schlecht mit Maske.
Es wird aber auch geratscht und diskutiert.
Mir ist völlig klar, dass die Frage, warum manche Regeln so sind, wie sie sind, die Menschen bewegt. Ich weiß auch, dass viele kleinere Kultur-Einrichtungen und die Soloselbstständigen trotz finanzieller Unterstützung eine schwierige Zeit hinter sich haben. Deshalb haben wir dort jetzt 2G anstelle von 2G plus eingeführt und die Kapazität auf 75 Prozent angehoben. Wenn ich aber in einer Veranstaltung keinen Abstand mehr habe, ist die Maske eine zusätzlich gebotene Sicherheitsmaßnahme.
"Wir wollten ein Disko-Hopping vermeiden"
Bayern hat bereits zwei Tage vor der Ministerpräsidentenkonferenz gelockert. Manche sprechen von Vorpreschen.
Andere vom Freistaat als Trendsetter.
Wobei die Beschlussvorlage der MPK dem bayerischen Kabinett bei seiner Entscheidung schon bekannt war und durchaus der Eindruck entstehen konnte, man wollte schlicht als Erster durchs Ziel gehen.
Das möchte ich zurückweisen. Der Ministerpräsident hat immer einen Stufenplan gefordert, schon bevor das MPK-Papier vorlag. Nach der Kabinetts- hatten wir eine Landtagssitzung und es ist nur fair, dem Parlament darüber Rechenschaft abzulegen, was wir umsetzen wollen.
Die MPK hat sich auf die Öffnung von Clubs und Diskos ab dem 4. März verständigt. Geht der Freistaat da mit?
Das ist durchaus eine Option, über die wir im Ministerrat beraten werden. Wir haben ja bewusst darauf verzichtet, diesen Weg vorher zu gehen, weil wir ein Disko-Hopping von Bundesland zu Bundesland verhindern wollten.
"Wenn ein Gesetz praktisch nicht funktioniert, müssen wir nachbessern"
Warum hat Bayern der einrichtungsbezogenen Impfpflicht erst zugestimmt, dann eine Aussetzung ankündigt - um wenig später zu versichern, man stehe dahinter?
Das ist Ihre Interpretation. Wir haben zugestimmt, weil wir die einrichtungsbezogene Impfpflicht für richtig halten und weil immer gesagt wurde, sie sei der erste Schritt zur allgemeinen Impfpflicht. Das ist ein Stück weit aufgelöst worden und ich halte es für desaströs, was da in Berlin im Moment abläuft. Es ist die Führungsverantwortung eines Kanzlers, in der Krise Orientierung zu geben, die allgemeine Impfpflicht zu forcieren und einen Gesetzentwurf vorzulegen.
Wo hakt es bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht?
Die Menschen in den Krankenhäusern und Einrichtungen wie Altenheimen erzählen mir, sie haben immer darauf gezählt, dass nach ihnen alle dran sind. Das glauben sie nicht mehr. Sie fühlen sich, als solle das ganze Thema auf ihrem Rücken abgeladen werden. Außerdem ist der Vollzug unklar. Was ist mit der Hebamme, die sich zwar nicht impfen lassen will, aber trotzdem fünf Frauen betreut? Soll das Gesundheitsamt ein Tätigkeitsverbot erlassen? Oder erst ein Bußgeld? Wenn ein Gesetz in der Praxis nicht funktioniert, müssen wir nachbessern. Aber ich habe das Gefühl, die Ampel will anhand des Themas demonstrieren, wer jetzt in Berlin regiert, und dass es dabei manchmal nicht mehr um die Sache selbst geht.
Andersherum könnte man der Union vorwerfen, dass sie in ihrer neuen Rolle als Opposition versucht, der Regierung vors Schienbein zu treten.
Wer Verantwortung will, muss sie auch ausüben.
"Natürlich spielt die Versorgungssicherheit eine große Rolle"
Glauben Sie noch an die allgemeine Impfpflicht?
Wenn man sieht, wie Berlin da vorgeht, könnte man zunehmend skeptischer werden. Aber ich bin weiterhin überzeugt, dass sie richtig wäre.
Was war für Sie der schlimmste Moment während der Pandemiezeit?
Die vielen Gespräche mit Menschen in den Altenheimen in früheren Wellen. Ich habe mit Einrichtungs-Leitern telefoniert, die verzweifelt waren. Das Personal war infiziert, die Menschen starben. Das hat mich wirklich mitgenommen. Ich erinnere mich auch an ein Gespräch mit einer Intensivpflegekraft aus der München Klinik. Irgendwann stockte sie und sagte: Ich gehe jeden Abend heim und weiß, dass ich meine Arbeit nicht mehr richtig machen kann. Weil es zu wenig Leute gibt und die Arbeit zu viel ist. Das ist schon bedrückend. Und deswegen müssen wir dieses Pflegethema jetzt auch angehen. Wir haben zwar schon einiges auf den Weg gebracht, aber uns fehlen die Menschen, die diesen Beruf machen.
Wegen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht haben bereits Pflegekräfte angekündigt, ihren Job aufzugeben. Inwiefern spielt das bei der Umsetzung eine Rolle?
Ich nehme dazu sehr unterschiedliche Aussagen wahr. Sehr viele in der Pflege sind schon geimpft, gerade in den Krankenhäusern. Ich finde aber auch, man muss versuchen, die Leute so weit es geht nochmal mitzunehmen - zum Beispiel mit dem Novavax-Impfstoff. Voraussichtlich noch im Februar soll das Vakzin ausgeliefert werden, wir rechnen mit 225.000 Dosen, die vom Bund an die Länder nach dem Bevölkerungsschlüssel verteilt und zunächst über die Impfzentren eingesetzt werden; selbstverständlich werden vor allem auch die Arztpraxen eingebunden werden. Natürlich spielt die Versorgungssicherheit eine große Rolle. Ich weiß auch, dass wir die vulnerablen Gruppen schützen müssen. Aber es nützt auch nichts, wenn ich von ambulanten Pflegediensten höre, dass sie bestimmte Touren nicht mehr fahren können, weil sie keine Leute mehr haben. Das ist ein schwieriges Spannungsfeld.
"Wo die Würde der Menschen berührt ist, müssen wir handeln"
Ist dieses Dilemma nicht auch eine direkte Folge des Personalmangels in der Pflege?
Mir persönlich ist es sehr wichtig, die Situation in der Pflege zu verbessern. Man kann jetzt wieder platt sagen, wir machen Oppositionspolitik, aber wahr ist doch: Der Pflegebonus auf Bundesebene ist immer noch nicht ausgezahlt worden. Ich hätte außerdem sofort Schichtzulagen steuerfrei gestellt. Wenn wir da jetzt nicht nachhaltig reingehen, stehen wir irgendwann da und wundern uns, wenn sich keiner mehr um die Menschen kümmert.
Die Folgen können wir an den eklatanten Missständen in den Pflegeheimen am Schliersee und in Augsburg sehen, die zum gleichen Betreiber gehören. Wie kann es sein, dass solche Zustände möglich sind?
Wir müssen dieses Thema mit aller Konsequenz aufarbeiten. Deswegen wird das Ministerium am Dienstag im Landtag dem Ausschuss für Gesundheit und Pflege berichten. Ebenso muss die Fachstelle für Pflege- und Behinderteneinrichtungen - Qualitätsentwicklung und Aufsicht in Augsburg Auskunft geben, wie engmaschig sie dieses Thema angegangen ist. Es gibt ja mehrere Bereiche: Warum ist das niemandem aufgefallen? Warum hat sich niemand gemeldet? Wann hat die Fachstelle geprüft und was ist aus den Anordnungen geworden? Wann kann so ein Heim geschlossen werden? Besonders beim letzten Punkt müssen wir schauen, ob die gesetzlichen Rahmenbedingungen ausreichend sind.
Inwiefern?
Wir sollten nochmal prüfen, ob die Zeit, bis eine Anordnung zur Schließung getroffen wird, verkürzt werden kann. Wir werden da ein ganzes Maßnahmenbündel auf den Weg bringen. Dort, wo die Würde der Menschen berührt ist, müssen wir handeln. Es geht aber auch um grundsätzliche Fragen: Warum funktionieren neben der staatlichen Kontrolle die gesellschaftlichen Mechanismen nicht? Warum funktioniert es nicht, dass solche Dinge nach außen getragen werden? Am besten wäre es, wenn die Pflegekräfte oder die Angehörigen sich selbst melden. Deswegen denke ich auch darüber nach, eine Art Pflege-SOS einzurichten. Also ein niedrigschwelliges Angebot, bei dem man sich anonymisiert melden kann, wenn etwas nicht stimmt. Schließlich sind es ja die Pflegekräfte, die Missstände vor Ort am ehesten bemerken.
"Pflegekräfte brauchen zuverlässige Strukturen"
Die Barmer hat errechnet, dass bis 2030 für Bayern 146.000 Pflegefach- und Hilfskräfte gebraucht werden und damit nochmals 4.000 mehr als bisher angenommen. Ist diese Zahl erreichbar?
Ich glaube, wir müssen zwei Wege gehen. Zum einen müssen wir die pflegenden Angehörigen stärken, denn sie sind immer noch der größte Pflegedienst. Rund 70 Prozent der Menschen mit Pflegebedarf werden von Angehörigen gepflegt. Deswegen will ich ein Pflegezeitgeld, analog zum Elterngeld. Außerdem brauchen wir mehr Kurzzeit- und Tagespflege. Und wir müssen die professionelle Pflege stärken, indem wir die Arbeitsbedingungen verbessern.
Was stellen Sie sich vor?
Die Pflegekräfte brauchen zuverlässige Strukturen für ihr Berufs- und Privatleben. Wir brauchen neben der Pflegeausbildung als Ergänzung auch mehr Akademisierung, eine Übertragung von Heilkundeaufgaben, Springerpools, Wiedereinsteigerprogramme und natürlich auch mehr Gehalt. Diese Menschen brennen für ihren Beruf, aber sie brennen aus. Und das werden wir nur lösen, wenn wir mehr Köpfe haben.
"Ich wünsche mir, dass wir mutig sind und die Chance ergreifen"
Für die Pflegebedürftigen sind steigende Eigenanteile in Heimen eine große Belastung. In Bayern liegen sie derzeit bei mehr als 2.000 Euro im Monat. Was kann man tun?
Seit Jahresbeginn greift ja die Neuregelung der Pflegereform, mit der Heimbewohner zusätzlich zum Geld der Pflegekasse eine Kostenerstattung je nach Pflegedauer von fünf bis zu 70 Prozent erhalten. Das reicht aber natürlich bei Weitem nicht, weil die Kostensteigerung das auffrisst. Man wird dem nur entgegenwirken können, wenn der Staat mehr Geld in die Hand nimmt und die Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrnimmt.
Der "große Wurf" kommt also noch?
Es ist meine felsenfeste Überzeugung, dass diese Pandemie, diese Krise, auch eine Chance bietet. Ich wünsche mir wirklich, dass wir diese Chance ergreifen und mutig sind - etwa durch weniger Bürokratie und mehr Digitalisierung.
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